WIEN / Staatsoper: BORIS GODUNOW Wiederaufnahme
11. Mai 2022
Von Manfred A. Schmid
Die Inszenierung von Yannis Kokkos, von dem auch die uninspirierte Bühne und die Kostüme stammen, hat schon bei ihrer Premiere 2007 wenig Zustimmung erhalten. Mangelnde Personenführung, misslungene Massenszenen, ja, das Vorliegen einer Nicht-Inszenierung, das sind nur einige der Vorwürfe, die geäußert wurden. Klar, dass diese Kritikpunkte auch bei einer Wiederaufnahme nicht beseitigt werden können. Die Abfolge der einzelnen Szenen wirkt, wegen der fehlenden Herausarbeitung dramaturgischer Höhepunkte, ermüdend, weshalb nach dem Fallen des Vorhangs des Öfteren zu hören ist, dass man sich eine Pause gewünscht hätte, die in der „Originalen (Ur)-Fassung“ aus dem Jahr 1869 allerdings nicht vorgesehen ist. Diese Fassung wirkt gegenüber den früher verwendeten, geglätteten Bearbeitungen, u.a. von Rimski-Korsakow, um einiges spröder, ist aber authentischer und hat sich zu Recht inzwischen durchgesetzt.
Bemerkenswert, dass Staatsopern-Dramaturg Andreas Lang vor Beginn der Aufführung vor den Vorhang tritt und diesmal – erfreulicherweise – keine Umbesetzungen in letzter Minute bekanntgibt, sondern angesichts des Kriegs in der Ukraine auf die die traurige Aktualität des Werks verweist, in dem u.a. vor Augen geführt wird, wie das Volk unterdrückt, belogen und durch Drohungen etwa zu Jubeläußerungen gezwungen wird. Mussorgskijs Oper sei auch als Parabel auf die Macht der Manipulation in einem Terrorregime zu sehen. Kann man machen, muss man aber nicht. Man könnte auch darauf vertrauen, dass das Publikum selbst diese Aktualität entdeckt, was bei dieser sich dahinschleppenden Inszenierung freilich auf Hindernisse stößt, was wiederum Langs Intervention wohl Recht gibt.
Was die Inszenierung nicht zu vermitteln imstande ist, gelingt zum Glück der genialen Musik Mussorgskijs, von dem auch das Libretto nach Alexander Puschkin stammt. Michael Güttler, der an der Wiener Staatsoper bisher als Dirigent u.a. von Madama Butterfly, La Cenerentola oder Eugen Onegin zum Einsatz kam und 2020 als Einspringer für Gergiev im Lohengrin auf sich aufmerksam gemacht hat, ist ein vitaler Gestalter des musikalischen Geschehens. Blech und Streicher präsentieren sich in guter Form. Auffallend ist allerdings, dass mache Aktschlüsse etwas verhuscht, verebbend ausfallen. Nun gibt es bei Mussorgskij gewiss keine pompösen Aktschlüsse. Aber sie sind oft musikalische Fragezeichen, die auf den weiteren Verlauf des Geschehens hindeuten. Das mehr herauszuarbeiten, würde sich lohnen.
Mehrheitlich Erfreuliches gibt es von den Stimmen auf der Bühne zu berichten. Mit Alexander Tsymbalyuk wird ein noch recht junger Sänger für die Titelpartie aufgeboten. International hat der ukrainische Bass in dieser Rolle schon viel Zustimmung erfahren. Bei seinem Hausdebüt an der Staatsoper zeigt er, nach einem alles andere als überzeugenden Beginn (ein früher Buhrufer bleibt ihm deshalb bis zum Schluss auf den Fersen) Qualitäten, die den hohen Anforderungen weitgehend entgegenkommen: Tsymbalyuk ist kein tiefgründiger Bass, sondern ein eher heller Charakterbass, der mit den (helden-)baritonalen Passagen des Boris keinerlei Probleme hat. Auch bei der Gestaltung der Piano-Stellen kann er sich – in seinen Reflexionen und im Umgang mit seinen Kindern – gebührend zurückzunehmen. Intensiv gestaltet er den seelischen und körperlichen Zusammenbruch eines Mannes, der mit der Schuld, die er auf sich geladen hat, nicht fertig wird, schließlich nur noch büßen will und unerlöst stirbt. Ein Boris vom Rang eines Boris Christoff oder René Pape wird aus ihm aber wohl keiner werden.
Vitalij Kowaljow als Mönch Pimen ist ein verantwortungsvoller Chronist, der sich der historischen Wahrheit verpflichtet fühlt, die Umstände der Ermordung des Zarewitschs zu Papier bringt und auch den Mut hat, davon vor dem Zaren und dem versammelten Hof Zeugnis abzulegen. Der Bass, ebenfalls ukrainischer Herkunft, strahlt in seinem Auftreten und mit seiner wohltimbrierten Stimme Würde und Autorität aus. Sein Schüler, Grigorij, nützt die Informationen, die er von Pimen erfährt, für eine politische Karriere. Der russische Tenor Dmitry Golovnin verleiht dem Usurpator jugendlichen Eifer und taktisches Geschick.
Starke Bühnenpräsenz und stimmliche Qualität zeichnet die Auftritte gleich mehrerer Hausbesetzungen aus. Die vielleicht eindrucksvollste Rollengestaltung des Abends gelingt Ilja Kazakov, Mitglied des Opernstudios, bei seinem Rollendebüt als versoffener, schwadronierender, entlaufener Mönch Warlaam. Ein Bass-Buffo mit trefflich eingesetzten stimmlichen und darstellerischen Fähigkeiten.
Einprägend gestaltet weiters auch Thomas Ebenstein sein Rollendebüt als machiavellischer Opportunist und politischer Ränkeschmied Schuiskij. Nach seinem tollen Auftritt als Valzacchi im Rosenkavalier erneut das psychisch einfühlsam gestaltete Porträt eines geschickt operierenden Intriganten.
Der Bariton Sergey Kaydalov als Andrei Schtschelkalow und die vielseitig einsetzbare Isabel Signoret als Zarensohn Fjodor liefern ebenfalls gelungene, aus dem Haus besetzte Rollendebüts, was auch für Stephanie Maitland als resolute Schenkenwirtin gilt, die der Szene in einer Gastwirtschaft an der Grenze zu Litauen Farbigkeit verleiht.
Erfahrung in ihren Rollen haben bereits Ileana Tonca, die als Xenia, Tochter von Boris, den Verlust ihres Bräutigams lyrisch beklagt, und der fast immer und überall einsetzbare Bassist Dan Paul Dumitrescu als Hauptmann.
Gut rollendeckend ist Stephanie Houtzeels Premiere als Amme, ein fein gestaltetes und berührend gesungenes Rollendebüt liefert Andrea Giovannini als Narr. Ein vielversprechendes Ensemblemitglied, das diesmal, als Spieltenor eingesetzt, sein vielseitiges Können unter Beweis stellt.
Großes Lob verdient der Staatsopernchor, der in dieser Oper eine Hauptrolle zu spielen hat und sich dabei – den inszenatorischen Mängeln zum Trotz – bestens bewährt.
Viele Applaus im ziemlich vollen Haus und ein bereits erwähnter – Buhrufer.
12.5.2022