WIEN / Staatsoper: „BORIS GODUNOW“ – 15.05.2022
Alexander Tsymbalyuk in der Titelrolle. Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Als ich vor einem Jahr die Karte für diese Vorstellung bestellt habe, habe ich das in erster Linie getan, um Ildar Abdrazakov in der Titelrolle sehen zu können. Nun hat sich die geopolitische Lage in den letzten drei Monaten gewaltig verändert, und einige Künstler aus Russland sind plötzlich in der westlichen Welt nicht mehr erwünscht. Ohne das hier bewerten zu wollen, finde ich es sehr schade, dass nun einige der besten Sänger der Welt bei uns nicht mehr auftreten (dürfen). Und so wie die Metropolitan Opera die Turandot anstatt mit Anna Netrebko mit einer Sängerin aus der Ukraine besetzt hat, so hat nun die Wiener Staatsoper den Boris mit einem Sänger aus der Ukraine besetzt. Der 1976 in Odessa geborene Alexander Tsymbalyuk kann bereits auf eine beachtliche Karriere zurückblicken. Er ist bereits an allen großen Opernhäusern aufgetreten, der Berliner Staatsoper, der Bayerischen Staatsoper München, der Mailänder Scala, der Covent Garden Opera London, dem Gran Teatre del Liceu Barcelona, der Opéra Bastille Paris und dem Teatro Real Madrid, wo ich ihn zuletzt als Fafner gesehen habe. Erst jetzt – ziemlich spät – debütierte er an der Wiener Staatsoper. Allerdings ist es nicht sein Wien-Debüt. Bereits vor 10 Jahren hörte ich ihn im Musikverein unter Zubin Mehta in Arnold Schönbergs „Gurre-Lieder“. Er besitzt einen kraftvollen, dunkel timbrierten Bass, der schlank und elegant geführt wird. Zu Beginn sang er noch mit zu viel Vibrato, das besserte sich jedoch im Verlauf des Abends. Darstellerisch kann er noch nicht voll überzeugen, da fehlt noch die Hand eines guten Regisseurs. Derzeit glaubt man ihm den liebevollen Vater mehr als den skrupellosen, über Leichen gehenden Machtmenschen. Dennoch eine vor allem stimmlich sehr gute Leistung, die am Ende mit viel Jubel quittiert wurde.
Vitalij Kowaljow und Dmitri Golovnin. Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Auch die zweite große Bass-Partie des Abends war mit einem Sänger aus der Ukraine besetzt. Vitalij Kowaljow war mit seinem weich strömenden Bass und in sich ruhender Autorität ein großartiger Pimen.
Aber trotz der politischen Krise fanden sich auch russische Sänger auf der Besetzungsliste. Dmitry Golovnin, den wir noch aus dem Theater an der Wien in Tschaikowskys „Die Jungfrau von Orléans“ und zuletzt an der Staatsoper als Hermann in „Pique Dame“ in bester Erinnerung haben, war mit seinem kraftvollen, hellen Tenor ein markanter Grigorij.
Und unser Ensemblemitglied Sergey Kaydalov war mit seinem schön timbrierten lyrischen Bariton eine gute Besetzung des Amtsschreibers Schtschelkalow.
Überaus erfreulich ist es, dass zwei der besten Leistungen des Abends aus dem Opernstudio kamen: der 1992 in Kasan geborene Ilja Kazakov beeindruckte als Warlaam mit seinem Lied von Kasan (!) stimmlich ganz außerordentlich. Wenn er jetzt die Partie noch mit einem Regisseur gut erarbeiten wird, dann kann er sicher weltweit mit dieser Partie erfolgreich gastieren.
Und sehr schön ist es, dass wir nun neben Noa Beinart derzeit noch eine zweite Altistin am Haus haben. Stephanie Maitland begeisterte mit ihrem warm klingenden, weich strömenden Alt als Schenkenwirtin.
Sehr enttäuschend hingegen Margaret Plummer als Fjodor, deren Stimme von den Orchesterfluten an diesem Abend größtenteils übertönt wurde.
Ebenfalls gegen die Lautstärke des Orchesters anzukämpfen hatte diesmal auch Thomas Ebenstein. Auch er würde jetzt noch einen guten Regisseur benötigen, um der Figur des Schuiskij die erforderliche Gefährlichkeit verleihen zu können (unvergesslich in dieser Partie etwa Heinz Zednik oder Philip Langridge).
Auch der Gottesnarr von Andrea Giovannini klang sehr angestrengt an diesem Abend (auch in dieser Partie ist Heinz Zednik unerreicht).
Die übrigen Sänger setzten sich zum Teil aus langjährigen Ensemblemitgliedern (Ileana Tonca als ihren verstorbenen Bräutigam beweinende Xenia, Stephanie Houtzeel als fürsorgliche Amme, Dan Paul Dumitrescu als Hauptmann, Marcus Pelz als Mitjuch und Wolfram Igor Derntl als Leibbojar) und auch aus neuen Ensemblemitgliedern (Daniel Jenz als Missail und Evgeny Solodovnikov als Nikititsch) zusammen.
Aber Hauptakteur der Oper ist ohnehin das Volk, das im 16. Jahrhundert in Russland genauso geknechtet, unterdrückt und manipuliert wurde wie heute. Leider hat sich da nicht viel über die Jahrhunderte geändert. Der Chor der Wiener Staatsoper, der Slowakische Philharmonische Chor und die Kinder der Opernschule der Wiener Staatsoper klangen homogen und stimmgewaltig. Nur mit den Tempi von Sebastian Weigle war man sich da nicht immer einig. (In der ersten Vorstellung dieser Serie sprang Michael Güttler für ihn ein.)
Es ist wirklich bedauerlich, dass die Wiener Staatsoper, die also diese gewaltige Choroper von Modest Mussorgskij musikalisch durchaus beeindruckend – und zum großen Teil sogar aus dem Ensemble – besetzen kann, szenisch keine passable Lösung anzubieten hat. Das haben wir einer Fehlentscheidung von Ioan Holender zu verdanken. 1991 löste die Inszenierung von Andrej Tarkowskij die beim Publikum so beliebte Produktion von Otto Schenk ab. Aber auch die Inszenierung des bereits verstorbenen russischen Filmemachers war sehr schön und beeindruckend. Warum man diese Produktion nach nur 16 Aufführungen durch diese völlig uninteressante und langweilige (und durch lange Umbaupausen auch noch völlig enervierende) Nicht-Inszenierung von Yannis Kokkos ersetzen musste, weiß wohl nur der ehemalige Operndirektor. Diese Produktion war schon bei der Premiere 2007 ein völliger Misserfolg und wurde auch durch eine Neueinstudierung (diesmal in der sogenannten Urfassung) im Jahr 2012 nicht besser. Wenn ich daran denke wie spannend die Urfassung in der Inszenierung von Harry Kupfer an der Wiener Volksoper 1998 war… Vielleicht hätte man in der kommenden Spielzeit lieber eine Neuproduktion von „Boris Godunow“ statt der Neuinszenierungen von „Salome“ und „Le nozze di Figaro“ ansetzen sollen…
Walter Nowotny
„Boris Godunow“ kann man noch am 18., 23 und 27. Mai 2022 in dieser Besetzung sehen. Für alle Vorstellungen gibt es in jeder Preiskategorie noch jede Menge Karten.