WIEN / Staatsoper: „BILLY BUDD“ – 03.11.2024 – 3. Vorstellung
Gregory Kunde, Huw Montague Rendall. Foto: Wiener Staatsoper/Sofia Vargaiová
Lange hat es gedauert, bis die HMS Indomitable in Wien zwar nicht vor Anker gegangen ist, aber wenigstens mal vorbeigesegelt ist. 46 Jahre nach der Uraufführung an der Londoner Covent Garden Opera war Benjamin Brittens Oper „Billy Budd“ am 10. Oktober 1996 im Odeon erstmals in Wien zu sehen. Die „Neue Oper Wien“ hätte allein dafür schon einmal eine Auszeichnung verdient. Diese Produktion war derart erfolgreich, dass sie im nächsten Jahr noch einmal wiederaufgenommen werden musste. Der 26-jährige österreichische Bariton Adrian Eröd hatte damals – noch lange vor seinem Engagement an die Wiener Staatsoper – seinen ersten großen Erfolg. Fünf Jahre später schaffte es dieses Meisterwerk von Benjamin Britten dann endlich ins Repertoire der Wiener Staatsoper. Die großartige Inszenierung von Willy Decker, die bereits 1992 an der Kölner Oper Premiere hatte (mit Philip Langridge, Bo Skovhus und Monte Pederson) und dann u.a. auch am Teatro La Fenice in Venedig und am Gran Teatre del Liceu in Barcelona zu sehen war, hatte schließlich am 12. Februar 2001 Premiere an der Wiener Staatsoper mit einer unvergesslichen Besetzung (Neil Shicoff, Bo Skovhus und Eric Halfvarson), eine Sternstunde in der Geschichte der Wiener Staatsoper. Bis 2011 brachte es diese Inszenierung in Wien auf immerhin 28 Vorstellungen. Während es dem Fliegenden Holländer von Richard Wagner vergönnt ist wenigstens alle sieben Jahre mal an Land gehen zu dürfen, musste das Wiener Publikum nun mehr als 13 Jahre warten, bis die HMS Indomitable in Wien wieder vorbeisegeln durfte.
Und auch bei der Wiederbegegnung war man von der Inszenierung Willy Deckers begeistert, auch wenn vielleicht einige Details in der Personenführung im Laufe der Jahre bereits verloren gegangen sind. Da hat ein Regisseur eine Oper werkgerecht inszeniert – und nicht irgendwelche krausen Assoziationen, wie uns das heute bei Neuinszenierungen vorgesetzt wird. Willy Decker hat die Geschichte des jungen, hübschen Seemanns Billy Budd, der bei Kapitän Vere und dem Waffenmeister John Claggart die gegensätzlichsten Gefühle auslöst, zu einem spannenden Psychothriller verdichtet, der auch heute noch gefangen nimmt.
Gregory Kunde, der von der Wiener Staatsoper in den letzten Jahren eher stiefmütterlich behandelt worden ist, gelang ein großartiges Rollendebüt als Edward Fairfex Vere. Der amerikanische Tenor hat Anfang des Jahres seinen 70. Geburtstag gefeiert und hat nun mit dieser Partie eine weitere wichtige Rolle seinem ohnehin schon umfangreichen Repertoire hinzugefügt. Welcher andere Tenor hat schon gleichzeitig die Titelhelden von „Poliuto“ von Donizetti und „Peter Grimes“ von Britten, den Radames in „Aida“ und den Alvaro in „La forza del destino“, den Pollione in Bellinis „Norma“ und des Des Grieux in Puccinis „Manon Lescaut“, den Calaf in Puccinis Turandot“ und den Samson in „Samson et Dalila“ von Saint-Saens, die Titelhelden in Verdis „Otello“ und Giordanos „Andrea Chénier“, den Manrico im „Troubadour“ und den Jean in Meyerbeers „Le Prophète“, die Titelpartien in den Verdi-Opern „Don Carlos“ und „Ernani“, den Énée in „Les Troyens“ und den Rodolfo in „Luisa Miller“, den Cavaradossi in „Tosca“, den Florestan in „Fidelio“ und den „Bacchus in „Ariadne auf Naxos“, den Luigi in Puccinis „Il Tabarro“ und den Canio im „Bajazzo“, den Éléazar in „La Juive“ und nun eben auch den Captain Vere im Repertoire? Und das sind nur die Partien, die Gregory Kunde in den letzten sechs Jahren gesungen hat. Er legt den Kapitän Vere nicht als introvertierten und sensiblen Mann dar, wie es Neil Shicoff so unvergleichlich getan hat. Kundes Kapitän ist sehr bodenständig, ein Mann, der Autorität ausstrahlt und dem man die Führung eines Kriegsschiffes zutraut. In seinem Anfangsmonolog „I am an old man“ klingt die Stimme tatsächlich wie die Stimme eines alten Mannes, aber dann singt er die Partie mit warmen Ton und schönem Klang – da hört man seine Erfahrung im Belcanto-Fach zu Beginn seiner Karriere. Die Höhen scheinen ihm keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten und klingen noch immer glanzvoller als bei manch jüngeren Kollegen. Hoffentlich wird er bald wieder an der Wiener Staatsoper zu hören sein.
Huw Montague Rendall. Foto: Wiener Staatsoper//Sofia Vargaiová
Huw Montague Rendall ist der Sohn eines Sängerehepaares. Sein Vater David Rendall gastierte 1978 (als Don Ottavio in „Don Giovanni“) und 1988 (als Matteo in „Arabella“) an der Wiener Staatsoper und sang 1978 im Musikverein unter Herbert von Karajan das Tenor-Solo in Bruckners Te Deum. Seine Mutter, die Mezzosopranistin Diana Montague, hat an der Wiener Staatsoper nur einmal (1989 als Cherubino) gastiert, sang aber 1986 bis 1995 oft bei den Salzburger Festspielen. Bereits 2017 fiel der damals erst 23-jährige Huw Montague Rendall bei den Salzburger Festspielen als Teilnehmer am Young Singers Projekt in Alban Bergs „Wozzeck“ an der Seite von Asmik Grigorian und Matthias Goerne positiv auf. Nun gelang ihm nicht nur ein großartiges Rollendebüt als gutaussehender, aber naiver Matrose, sondern auch ein sehr erfolgreiches Hausdebüt an der Staatsoper. Man nimmt ihm ab, dass ihm an Bord des Schiffes alle Herzen zufliegen und dass er sowohl bei Kapitän Vere als auch bei John Claggart verborgene erotische Begierden weckt. Mit seinem schlanken, lyrischen Bariton und seinem umwerfenden Rollenporträt erweist er sich als Idealbesetzung des Titelhelden. Sehr schön gelang ihm der große Monolog, in dem er vor der Hinrichtung über sein kurzes Leben sinniert. Und wenn er sich an Kapitän Vere klammert und ihn anfleht ihn zu retten, dann geht einem das schon sehr unter die Haut.
Der schwarze Bass von Brindley Sherratt eignet sich ganz ausgezeichnet für die Partie des Waffenmeisters John Claggart, der neben dem Jago sicher zu den bösesten Figuren der Opernliteratur zählt. Einerseits begehrt er den Schönling Billy Budd, dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – beschließt er den hübschen Jungen vernichten zu wollen. Der britische Bassist gestaltete diesen Fiesling glaubhaft und stimmlich eindrucksvoll.
Es ist sehr erfreulich dass in der nun laufenden Aufführungsserie auch zwei Sänger auf der Bühne stehen, die schon 1996 bei der Österreichischen Erstaufführung mit an Bord waren. Adrian Eröd, der erste Wiener Billy Budd, der diese Partie zwar nicht in der Premiere der Staatsopernproduktion, aber bei der letzten Wiederaufnahme vor 13 Jahren singen durfte, ist in der Zwischenzeit zum Ersten Leutnant Mr. Redburn befördert worden. Und Marcus Pelz, der nun wie in der Staatsopernpremiere 2001 den 2. Maat singt, wirkte 1996 im Odeon als Donald mit. Und wie in der Premiere 2001 ist auch Wolfgang Bankl als Mr. Flint wie ein Fels in der Brandung wieder mit an Bord. Als Dritter Offizier Mr. Ratcliffe wirkt auch Attila Mokus am Kriegsgericht mit, das Billy Budd nach den Gesetzen des Kriegsrechts zum Tod verurteilt.
Die vielen kleineren Partien waren alle ausgezeichnet besetzt: Andrea Giovannini als Red Whiskers, Andrei Maksimov als Donald, Dan Paul Dumitrescu als Dansker, Hiroshi Amako als Neuling, Lukas Schmidt als Squeak, Evgeny Solodovnikov als Bootsmann, Jusung Gabriel Park als 1. Maat, Devin Eatmon als Mann im Ausguck und Alex Ilvakhin als Freund des Neulings. Großartig die Herren des Chors und des Extrachors der Wiener Staatsoper.
Die Wiener Philharmoniker befinden sich derzeit auf einer ausgedehnten Asientournee. Das macht sich leider im Orchestergraben bemerkbar. Das Orchester der Wiener Staatsoper hätte für diese Wiederaufnahme noch einige zusätzliche Proben benötigt, das Werk stand doch zu lange nicht mehr auf dem Spielplan. Allerdings konnte bei den ersten drei Aufführungen eine stetige Steigerung der Leistung festgestellt werden. Und es ist gut, dass man die musikalische Leitung dem britischen Dirigenten Mark Wigglesworth anvertraut hat, der die Musik Benjamin Brittens im kleinen Finger zu haben scheint. Wie Kapitän Vere auf der Bühne so steuert er das Orchester unfallfrei durch die Partitur.
Am Ende gab es langanhaltenden Applaus und Jubel für das großartige Trio Kunde, Montague Rendall und Sherratt.
Die ersten drei Aufführungen von „Billy Budd“ waren die bisher besten Opernabende in den ersten beiden Monaten der laufenden Spielzeit an der Wiener Staatsoper. Er gibt noch zweimal Gelegenheit dieses Ereignis live zu erleben (am 7. und 10. November). Wer es noch nicht gesehen hat, sollte sich das nicht entgehen lassen, und wer es schon gesehen hat, will es ohnehin noch einmal sehen. Es gibt für beide Vorstellungen noch Karten.
Walter Nowotny