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WIEN/ Staatsoper: ARIODANTE – zweite Vorstellung der Neuproduktion

27.02.2018 | Oper


Chen Reiss, Christopher Dumaux. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: Händels „ARIODANTE“ /David McVicar/William Christie/Les Arts Florissants… und warum eigentlich nicht?

26.2. 2018 (2. Aufführung) – Karl Masek

Dominique Meyer ist ein besonderer Liebhaber der Barockoper, wie er immer wieder betont hat.  Schon in der ersten Saison seiner Direktionszeit (2010/11) hatte er mit dem großen Hallenser  immensen Publikumserfolg (mit „Alcina“; dann zweimal mit Gluck nicht so ganz), nun ist er wieder zuGeorg Friedrich Händel zurückgekehrt.

Die 1735 im damals neu eröffneten Londoner Opernhaus Covent Garden uraufgeführteOper wird von den Fachleuten zu den großartigen, besonders inspirierten Werken Händels gezählt. „Ariodante“  hatte zu Uraufführungs-Zeiten trotz großer Konkurrenz z.B. durch die populäre, freche, den Händel’schen Opernstil ironisierende bis karikierende Beggar‘s Operades Autorenduos John Gay (Text) und Johann Christoph Pepusch (Musik)großen Premierenerfolg. Gab es doch ein Füllhorn herrlichster Musik, eingängige Arien, die das verwöhnte Londoner Publikum nicht auf dem Nachhauseweg schon wieder vergessen hatte. Und handlungsmäßig  bewährte Ingredienzien: Schottischer Königshof. Ein Liebespaar (Ritter Ariodante und Ginevra, die Königstochter); der königliche Vater ist mit dieser Beziehung einverstanden; also fast ein „Lietofine“ gleich zu Beginn; aber da wäre die Oper ja nach einer Stunde aus; also Bedrohung des persönlichen Glücks und der politisch geplanten Erbfolge durch einen intriganten Herzog (Polinesso, der auch dem König nachfolgen möchte); Verkleidungstricks, zu denen die Hofdame Dalinda gefügig gemacht wird, um „als untreue Ginevra“ Unheil zu stiften. Echte und vorgetäuschte Liebe, Machtstreben und Neid, vermeintliche Untreue (Ginevra wird vom Vater zum Tod verurteilt, und jede Menge Verwicklungen, hervorgerufen durch den Bösewicht, der ein Doppelspiel spielt.  Der böse Polinesso wird getötet. Ginevra verteidigt sich selbst, also kein „Gottesgericht“ wie später im Lohengrin. Jetzt wirklich „Lietofine“, „die Wahrheit triumphiert“, das Liebespaar ist wieder vereint und es gibt schlussendlich auch ein zweites glückliches Paar: Dalinda und der Bruder des Ariodante, Lurcanio.

So weit, so einfach. In einer Barockoper dauert das. Im gegenständlichen Fall, wo das Wiener Staatsballett (sehr präsent und intensiv in der gelungenen Choreographie von Colm Seery – das „vertanzte“ Hochzeitfest, der Alptraum der Ginevra,…!) wesentliche Funktion und gleichsam das letzte Wort in allen drei Akten hat, mehr als vier Stunden.

Natürlich, immer wieder die Frage nach der Relevanz. Was sagen uns die Barockopern im 21. Jahrhundert? Und damit geht die Um- und Neudeutungsmaschinerie in Gang. Die Verlegung in andere Orte und Zeiten, das Hinterfragen von allerlei tradierten Klischees.

Ja, eh! Das kann und soll alles sein! Im Sinne einer Meinungs- und Interpretationsvielfalt hat es derlei in den letzten Jahrzehnten eines Barockopern-Booms immer wieder gegeben. Oft mit plausiblen, originellen, sehr überzeugenden Lösungen (solange sie nicht gegen die Musik gerichtet waren). Zu der angesprochenen Vielfalt gehört meiner Meinung nach aber auch das gelegentliche Verlassen von interpretatorischen Einbahnstraßen, bevor diese auch wieder in Sackgassen von neuen Klischees münden.

Also einmal der bewusste Blick zurück in die Entstehungszeit des Werkes.„… und warum eigentlich nicht?“ Mit dem Anspruch, „atmosphärisch präzise“ zu sein und nicht mit tagesaktuellem Beiwerk zu arbeiten, nur damit einigen Kritikern nicht fad wird. Ja, die Bartoli war als „Ariodante“ in der Conquita-Wurst-Aufmachung umwerfend gut. Wie steht’s aber dann mit der „Haltbarkeit“ einer solchen Idee, soll eine Inszenierung im Repertoire verbleiben? Wen interessiert dieser Gag noch in zwei, drei Jahren?

Übrigens bemerkenswert, was der geniale Autor der „Kulturgeschichte der Neuzeit“, Historiker, Philosoph, komödiantische Schauspieler, Kabarettist und „barocke“ Genussmensch, Egon Friedell, zu sagen hatte: „Wenn der Barockmensch in üppigen Formen, leuchtenden Farben und mystischen Verzückungen schwelgt, so trinkt er sich einen Rausch an, um der Langeweile und Prosa seiner reinen Verstandeskultur zu entrinnen.Für ihn ist die Kunst kein organischer Bestandteil seines täglichen Daseins wie bei den Griechen oder den Menschen der Renaissance, sondern ein Kostümfest, bei dem es dann freilich nicht geschmückt und lärmend genug hergehen kann …“ Abgedruckt ist sein Artikel(für das ‚Neue Wiener Journal‘, 1919) im exzellent gestalteten Programmheft.

David McVicar tut diesen Blick. Beschäftigt die Augen (atmosphärische, prunk- und geschmackvolle Ausstattung von Vicki Mortimer, kongenial das Lichtdesign von Paul Constable, ein variables Bühnenbild zeigt den Königshof, verschiebbare mittelalterliche Burgmauern und den Blick aufs Meer) durchaus im Sinne von Friedells Barock-Sicht).Er sorgt für ästhetisches Bewegungstheater, führt die Personen plausibel, in den Fecht- und Kampfszenen werden auch sportliche Höchstleistungen abverlangt.Ihm gelingen hochemotionale Stellen, etwa im 2. Akt, wenn Ariodante, tief getroffen durch Ginevras vermeintlichen Treuebruch, beschließt, seinem Leben ein Ende zu machen. Und es eröffnet sich erstmals der Blick zum Meer.


Sarah Connolly. Copyright: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn

Eine starke Szene, und Sarah Connolly liefert in der Titelrolle mit überwältigender Ausdruckskraft der ausufernden Schmerzensarie „Scherzainfida“ einen Höhepunkt des Abends, vielleicht sogar der ganzen Saison. Das sind die Momente, die einem die Kehle zuschnüren. In dieser Viertelstunde glaubt man zu wissen: Oper geht nur so – und nicht anders. Wie überhaupt der 2. Akt, in dem sich die Geschichte tragisch zuspitzt, zu den stärksten Operneindrücken zählt, die ich seit langem gesehen und gehört habe.

Händels Musik verliert hier augenblicklich alles Formelhafte. Die schier unendlichen Legatobögen, die Koloraturgirlanden, bekommen existenzielle Dringlichkeit. Die Stimmfarben drücken unfassbares Leid aus, die Orchestervaleurssind von anrührendem Ausdruck.

Wir sind damit zwangsläufig bei Staatsoperndebütant William Christie. Der Altmeister, Mentor und Förderer von Generationen von Opernsänger/innen der historisch informierten „Fraktion“  ist Motor und Seele des Unternehmens, er ist Klangsensualist – und vor allem ein Weltmeister in Sachen Stilgefühl, ziselierter Orchesterfeinheiten und klarer, sachlicher Schlagtechnik. „Seinem“ Orchester, Les Arts Florissants,entlockt er Klänge von verhaltener Intensität, barockem Prunk und herrlich seidiger Eleganz.

Unter seiner Obhut fühlen sich alle sicht- und hörbar wohl:

Chen Reiss als die unschuldige, fast zum Tod verurteilte Königstochter Ginevra steigert sich zu ihrer besten Leistung seit Antritt ihres Staatsopern-Engagements. Sie weist alles auf, was zu dieser Rolle gehört: einen klaren jugendlich-lyrischen Sopran mit Kraftreserven hin zu dramatischerer Farbe. Starke Intensität der Darstellung – hier sei noch einmal die Alptraumszene genannt samt dem plötzlichen, schockartigen Aufwachen, wo dann die Musik abrupt abreißt. Auch sie liefert mit ihrer Schmerzensarie „Il miocrudelmartoro“ ein Musterbeispiel berührender Sangeskunst.

Hila Fahima als Dienerin Dalinda muss auch ein Wechselbad der Gefühle durchlaufen. Das Werkzeug der Intrige mit seltsamer Hörigkeit zum Bösewicht wie die reuevolle Selbstzerknirschung kriegt sie mit quellklarer, weitgehend instrumental geführter Jungmädchenstimme hervorragend hin.

Eine bejubelte Glanzleistung kommt von Christophe Dumaux. Der Countertenor war als Polinesso ein Bösewicht wie aus dem Bilderbuch. Zum Fürchten aggressiv, zynisch, von brutalem Charisma. Die Stimme führt er mit harten Tönen grandios von den brustigen tiefen Lagen bis zu schwindelnden Höhenregionen, mit knatternder Koloraturakrobatik provoziert er jubelnde Begeisterung.

Rainer Trost stattet den  kämpferisch-prinzipientreu auftretenden Ariodante-Bruder Lurcanio und Mörder des Bösewichts mit all der Erfahrung seiner  über 20-jährigen internationalen Karriere aus. Sein schöntimbrierter, stilkundiger lyrischer Tenor klingt immer noch jung, hat aber in all den Jahren an dramatischer Kraft nicht zugelegt. Er bleibt im lyrischen Bereich, singt weiterhin viel Mozart und eben Barockes. Janáček sollte er einmal in Wien singen, den hat er damals abgesagt.

Wilhelm Schwinghammer debütiert mit dem König von Schottland im Haus am Ring. Auch der Münchner ist seit Sängerknaben-Zeiten  bei den Regensburger Domspatzen im Barockbereich stilkundig. Nach vielen Wagnerrollen in Hamburg und seit einiger Zeit auch in Bayreuth scheinen seinem profunden Bass  die Koloraturen nicht mehr ganz so locker aus der Kehle zu sprudeln. Die würdige, zwischen Vaterliebe und Ehrprinzipien changierende Figur spielt er mit Anstand. Und Benedikt Kobel erweist sich einmal mehr als wertvolles, verlässliches Ensemblemitglied als Odoardo.

Der Gustav Mahler Chor singt seine beiden Auftritte im 1. Akt und im Finale aus dem Orchestergraben, rundet  mit edler Tongebung die Vorstellung gut ab (Einstudierung: Thomas Lang).

Jubel für einen starken Opernabend, den man so schnell nicht vergessen wird.

(Weitere Vorstellungen: 1.3./4.3. – auch Livestream! – /8.3.)

Karl Masek

 

 

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