WIEN / Staatsoper: ANDREA CHÉNIER – Wiederaufnahme
120. Aufführung in dieser Inszenierung
30. November 2022
Von Manfred A. Schmid
Jonas Kaufmann. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Die neben Gottfried von Einems Dantons Tod einzige weitere „Revolutionsoper“, die es ins Repertoire geschafft hat, Umberto Giordanos „Dramma di ambiente storico“ in vier Bildern, Andrea Chénier, hat inzwischen schon gut 40 Jahre auf dem Buckel und firmiert auch bei der jetzigen Wiederaufnahme nur noch als „nach einer Inszenierung von Otto Schenk“. Das ist ihr auch anzumerken. An der Personenführung dürfte bei den Proben etwas gearbeitet worden sein, dennoch ist das, was geboten wird, auf weite Strecken nicht viel mehr als Rampentheater. Mit einer guten Besetzung, wie sie diesmal auch tatsächlich gegeben ist, klappt das einigermaßen, auch wenn die übersichtliche Bühne von Rolf Glittenberg, vor allem ab den 2. Bild, genügend Raum zu mehr Entfaltung geboten hätte. Glittenberg genügt jeweils ein Objekt, um den jeweiligen Stand der Entwicklung festzumachen: Eine umgestürzte Kutsche verweist auf die Entmachtung des Adels, ein ramponierter Leiterwagen, bei dem ein Rad beschädigt ist, signalisiert, dass der Fortgang der Revolution nicht so glatt verläuft, wie erhofft, im Schlussbild liegen dann nur noch ein paar schäbige Räder achtlos in einer Ecke. Die Revolution frisst ihre Kinder und steht vor ihrem Aus. Wenige Tage nach der Hinrichtung des Dichters Andrea Chénier ist sie dann auch tatsächlich zu Ende.
Wie in der Tosca dreht sich alles um eine höchst brisante, tragisch verlaufende Dreiecksbeziehung. Doch anders als bei Puccini macht der – Scarpia zunächst nicht unähnliche – Carlo Gérard, der es von einem Laikai am Hof der Gräfin von Coigy zu einem machtvollen Revolutionär gebracht hat, eine Wandlung durch. Da er von Kindheit an in Maddalena, der Tochter des Hauses, schwer verliebt ist und sie nicht bloß lüstern begehrt, verzichtet er, an die Macht gekommen, schließlich darauf, sie mit Gewalt gefügig zu machen. Auch ihren Geliebten Andrea Chenier, den er aus Eifersucht vors Tribunal gebracht hat, versucht er, von Reue gepackt, vor der Todesstrafe zu bewahren. Vergeblich. Maddalena geht aus freiem Willen mit Andrea in den Tod. Ein Triumph der Liebe über die Wirren der Zeit.
Maria Agresta, Jonas Kaufmann. Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Maria Agresta, international erfolgreich im italienischen Fach, feiert ein spätes, erfreuliches Hausdebüt als Maddalena di Coigny. Viel zu singen hat die italienische Sängerin in dieser Oper ja nicht, aber mit ihrem dunkel timbrierten, dennoch klaren und kräftigen Sopran, den sie Dank exzellenter Technik fein zu modulieren versteht, brilliert sie in den Duetten, in denen die Verliebten ihre gegenseitige Zuneigung bekunden. Man spürt, dass Agresta, die im Frühjahr nach der Absage von Anna Netrebko an der Mailänder Scala alle ihre Rollen übernommen hatte, im Vorjahr mit Jonas Kaufmann in Verdis Otello bereits gemeinsam auf der Bühne gestanden ist. So gut sind beide aufeinander abgestimmt, dass sei der Traumpaarung Harteros-Kaufmann 2017, Bayerischen Staatsoper, sehr nahekommen. Ihre Glanzarie „La mamma morta“ ist voll von anmutiger Nachdenklichkeit und Hingabe. Darstellerisch kommt sie an Netrebko nicht heran, überzeugt aber durch ihre Natürlichkeit und Offenheit.
Jonas Kaufmann tritt als trefflicher Andrea Chénier in Erscheinung. In dieser Rolle gastiert der Münchner Startenor seit einigen Jahren an großen Häusern in aller Welt, darunter 2018 auch schon an der Staatsoper. Etwas an Glanz hat seine Stimme inzwischen doch eingebüßt. Der Stimmansatz in der Höhenlage klappt stellenweise nicht mehr so einwandfrei, und ganz ohne merkliche Kraftanstrengung geht es wohl auch nicht mehr. Aber er kann – in „Come un bel dì di Maggio“ – nicht nur Maddalena, sondern auch das Publikum immer noch bezaubern. Mit samtig-verführerischen, schwärmerisch-dunklen Tönen, eindrucksvoller Rollengestaltung und einer kräftigen Portion Charme. Am Schluss gibt es für ihn auch einen Blumenstrauß, der auf die Bühne hinuntersegelt. Schon seit längerer Zeit nicht mehr erlebt.
George Petean. Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Auf Augenhöhe mit Agresta und Kaufmann agiert George Petean als Carlo Gérard, wenn er nicht gar den insgesamt besten Eindruck hinterlässt. Seine inneren Kämpfe, den Konflikt zwischen Leidenschaft und Machtausübung, seine Gewissensbisse, die schließlich in einen Läuterungsprozess münden, den man diesem Manne nicht zugetraut hätte, führt er glaubhaft vor. Sein Glaubensbekenntnis in „Nemico della patria“ im 3. Bild berührt ungemein und bekommt zurecht den stärksten Szenenapplaus des Abends. Ein kraftvoller, facettenreicher Bariton.
Von den zahlreichen Nebenrollen, allesamt Hausbesetzungen, gibt es Eindrucksvolles zu berichten. Stephanie Houtzeel, in letzter Zeit aufgrund ihrer Vielseitigkeit gleich in mehreren Produktionen sehr präsent, ist eine abgehobene, in ihrer Scheinheiligkeit und Blindheit gegenüber den herrschenden Verhältnissen widerliche Gräfin von Coigny. Dieser Frau wäre der Satz ,,Wenn die Armen kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen,“ den Maria-Antoinette nie gesagt hat, durchaus zuzutrauen. Als vielseitig einsetzbar erweist sich auch Michael Arivony, der den Sprung vom Opernstudio zum Ensemblemitglied geschafft hat und als Chéniers treuer Freund Roucher die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zieht.
Kaum eine Oper, in der sie nicht gebraucht wird: Monika Bohinec gestaltet den Auftritt der alten Madelon, die für die Ideale der Revolution alles – sogar den einzigen ihr noch verbliebenen Enkel – zu geben bereit ist, mit Würde und bewundernswerter Entschlossenheit. Da die Musik gleich weitergeht, wurde der fällige Auftrittsapplaus wohl verpasst.
Stark auch der resolute, grimmige Sansculotte Mathieu von Wolfgang Bankl sowie der umtriebige Spitzel Incroyable, dargestellt von Carlos Osuna, der ebenfalls zu den vielbeschäftigten Ensemblemitgliedern zählt. Nicht zu vergessen Isabel Signoret in der Rolle des sich für Maddalena aufopfernden Dienstmädchens Bersi.
Das Staatsopernorchester unter der Leitung des umsichtigen Francesco Lanzilotta sorgt für einen interaktiven Klangteppich, auf den sich das Gesangsensemble sicher fortbewegen kann, ohne jemals darin versenkt zu werden. Lautstärke und Dynamik lassen nichts zu wünschen übrig. Erwähnenswert ist – wieder einmal – das innige Solocello. Begeisterter Applaus.