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WIEN/ Staatsoper: ANDREA CHÉNIER . Dritte Aufführung in dieser Serie mit dem bereits vierten Interpreten der Titelpartie

WIEN / Staatsoper: „ANDREA CHÉNIER“ –  06.12.2022 –

Dritte Aufführung in dieser Serie mit dem bereits vierten Interpreten der Titelpartie

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    Luciano Ganci in der Titelrolle. Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

 Die Wiederaufnahme der Otto Schenk-Produktion von Giordanos „Andrea Chénier“ stand diesmal unter keinem guten Stern. Vielleicht stand im Vorfeld der wohl alle Kräfte bündelnden Premiere von Wagners „Die Meistersinger von Nürnberg“ nicht genügend Zeit für Proben zur Verfügung? Wie anders ist die schlechte Leistung des Chors der Wiener Staatsoper zu erklären? So inhomogen und distonierend (Chor der Schäferinnen im 1. Akt) hat man unseren Opernchor schon lange nicht mehr gehört.

Auch mit den Tenören hatte die Wiener Staatsoper da ihre liebe Not. Nachdem in der ersten Vorstellung Jonas Kaufmann eine sehr schwache stimmliche Leistung abgeliefert hatte, sagte er die zweite Vorstellung (mit Liveübertragung im Radio) kurzfristig ab. Da die Staatsoper scheinbar kein Cover für solche Fälle vorgesehen hatte, sprang der italienische Tenor Stefano La Colla, der am Abend zuvor an der Staatsoper den Cavaradossi in „Tosca“ gesungen hatte, ein und sang vom Bühnenrand mit den Noten, während ein Regieassistent den Titelhelden auf der Bühne mimte. In der hier besprochenen dritten Vorstellung dieser Aufführungsserie sprang nach neuerlicher Absage von Jonas Kaufmann nun Luciano Ganci ein, der den Andrea Chénier erst im Oktober – alternierend mit Gregory Kunde – am Teatro Comunale di Bologna gesungen hatte.

Vor der Vorstellung versuchten verzweifelt und vergeblich größtenteils weibliche Kaufmann-Fans vor dem Opernhaus bzw. im Foyer der Oper ihre Karten an den Mann bzw. an die Frau zu bringen. Dementsprechend blieben auch viele Plätze im Zuschauerraum der ausverkauften Staatsoper leer.

Der Einspringer des Abends, Luciano Ganci, hat soeben eine Aufführungsserie von Verdis selten gespielter Oper „Alzira“ an der Opéra Royal de Wallonie in Liège beendet. Er besitzt einen schön timbrierten Tenor mit strahlenden Höhen und gute Bühnenpräsenz. Bereits nach seinem eindrucksvollen Improvviso („Un dì all’azzurro spazio“) im 1. Akt wurde er lautstark bejubelt. Er besitzt offenbar auch ungeahnte Kraftreserven, denn im Gegensatz zu fast allen seinen Partnern hatte er keinerlei Mühe sich gegen die vom Dirigenten ungezügelten Klangmassen durchzusetzen. Aber er setzte nicht nur auf Kraft, er setzte seine Stimme auch farbenreich, mit schöner Phrasierung und starkem Ausdruck ein. Seine Schwäche ist die Pianokultur. Allerdings bemühte er sich erfolgreich in seiner Arie im 4. Akt („Come un bel dì di Maggio“) auch um schöne Pianophrasen.

Absoluter Tiefpunkt der Aufführung war – wie schon in der ersten Vorstellung dieser Serie – das Dirigat von Francesco Lanzillotta. Er ließ das Orchester der Wiener Staatsoper so laut spielen, dass man von einigen Sängern auf der Galerie kaum etwas hören konnte. Dass in dieser Lärmorgie Stimmen von jungen Mitgliedern aus dem Opernstudio völlig untergingen, ist ja schon schlimm genug, aber wenn sogar eine renommierte Sängerin wie Stephanie Houtzeel, die die Gräfin von Coigny sang und nun wahrlich nicht über eine kleine Stimme verfügt, kaum zu hören war, stimmt das schon bedenklich. Die einzigen Sänger, die Lanzillotta nicht zudeckte, waren Monika Bohinec, die das Glück hatte, dass Umberto Giordano für die kleine aber schöne Szene der alten Madelon nicht das volle Orchester vorschrieb, und Wolfgang Bankl, der sich als Mathieu mit seiner mächtigen Stimme mühelos gegen das Orchester stemmte.

Sogar George Petean, der für Carlos Álvarez eingesprungen war, hatte als Carlo Gérard in seiner Auftrittsarie im 1. Akt mit der Lautstärke des Orchesters zu kämpfen. Dafür gelang ihm seine große Arie im 3. Akt („Nemico della patria“) großartig, wofür er auch vom Publikum mit Riesenjubel bedankt wurde.

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Luciano Ganci, Maria Agresta. Foto: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn

Maria Agresta gastierte erstmals an der Wiener Staatsoper. Sie ist eine berührende, zerbrechliche und verletzliche Maddalena, die ihre Rolle sowohl szenisch als auch stimmlich bis zum Ende ausfüllt, mit einem verführerischen Timbre, einem schönen Legato und einer großartig und herzzerreißend vorgetragenen Arie „La mama morta“. Farblich passte ihr abgedunkelter Sopran sehr gut zum strahlenden Tenor von Luciano Ganci. Die Duette der beiden waren an diesem Abend seltene Momente von Harmonie.

Am Ende der Vorstellung gab es Jubel für die Sänger, verdientermaßen vor allem für den einspringenden Tenor, und – fast möchte man sagen ebenfalls verdientermaßen – laustarke Buhs für den Dirigenten.

Sollte Jonas Kaufmann am Freitag auch die vierte und letzte Aufführung dieser Serie absagen und die Wiener Staatsoper noch einen fünften  Interpreten der Titelpartie anbieten, dann wäre sie wohl reif für einen Eintrag in das Buch der Rekorde.

Walter Nowotny

 

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