Anja Harteros. Copyright: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Wiener Staatsoper
Umberto Giordano: »Andrea Chénier«
- Aufführung nach einer Regie von Otto Schenk
Donnerstag, 26. April 2018
I.
Andrea Chénier — nach Dantons Tod ein weiterer wichtiger Abend im Haus am Ring mit Anja Harteros und Jonas Kaufmann als Maddalena di Coigny und Chénier. Und Roberto Frontali, der als Carlo Gérard den stärksten Eindruck hinterläßt.
II.
Mit dem Libretto von Andrea Chénier bewies Luigi Illica erneut seine Größe. Die Bestürzung der Gäste im Haus di Coigny über die Nachricht vom Fall der Statue Henri IIII. — knapper läßt sich die Absurdität der Zeit kaum beschreiben. Der Kunstgriff des Librettisten, Chéniers letztes Gedicht »Comme un dernier rayon« (in der Oper »Come un bel dì di maggio«) dem Tenor als Abschied von der Welt in die Kehle zu legen: genial. Giordanos Idee, im zweiten Akt in die große Scene Gérard — Incroyable — Chor (»Ecco laggiù Gérard!«) die Marseillaise einzuweben, ohne daß diese Melodie sich zu stark in den Vordergrund drängt: ebenfalls genial.
III.
Durch den Stoff sind Ort und Zeit der Handlung festgelegt. Die Wiener Produktion in den Bühnenbildern Rolf Glittenbergs, den Kostümen Milena Canoneros und den szenischen Resten der Bemühungen Otto Schenks honoriert dies. Mit sängerischem und schauspielerischem Leben erfüllt, bedarf’s nicht mehr. Die verhandelten Prinzipien: Sie werden auch so augenscheinlich.
Der Wunsch nach Veränderung … die mit ihr einhergehende Gewalt, wenn sie denn losbricht, die Ohnmacht, Überbordendes nicht aufhalten zu können, die Enttäuschung und Resignation ob der nicht bedachten — und vielfach nicht gewollten — Folgen… »La rivoluzione i figli suoi divora!« (»Die Revolution verschlingt ihre Kinder!«), sinniert Gérard.
Man merke auf und verlasse das Opernhaus mit wachem Auge: Dieselben Themen springen einen an von den Titelseiten der ausgelegten Journale. Hebt man den Blick, starren einem fratzengleich die nämlichen Parolen der politischen Botschaften von den Litfaßsäulen entgegen. Wer bedarf da einer »Neudeutung«? Und: Kann Oper aktueller sein?
IV.
Roberto Frontali ist — nicht Michonnet, sondern Carlo Gérard. (Faszinierend, wie Eindrücke haften bleiben an Vergangenes, wenn es stark war.) Er tritt an im Bewußtsein, daß wenige im Parkett sich für sein eröffnendes Arioso interessieren. Alle warten sie auf den tenoralen Messias unserer Tage. (So der Eindruck.) Aber Frontali läßt sich nicht beirren. Läßt alle teilhaben an seiner Geschichte über die Ungerechtigkeit der Stände. (Welche heute doch nur in anderen Gewändern einherschreitet.)
In »Nemico della patria«, allein auf offener Bühne, gelingt Frontali das Schwerste überhaupt: zu berühren. Er wird es in seiner Verteidigung Chéniers und dem Abschied von Maddalena noch einmal tun… Frontali zeigt in Gérard einen Menschen: den Begehrenden, den Wütenden, den Liebenden. Und, tragisch, den Hellsichtigen. (Das eint ihn mit Danton.) Frontalis Bariton präsentiert sich kernig, mit ein wenig rauhbeiniger Herzlichkeit. Seine Stimme spricht über alle Register hinweg gleich gut an, klingt gesund und kräftig, wird gut geführt. Und, das Wichtigste: Da zeichnet ein Sänger das Portrait seiner Rolle. (Des wohl komplexesten Charakters des Abends.)
V.
Zoryana Kushpler (die „alte“ Madelon). Copyright: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Zweites, durchaus überraschendes Beispiel: Zoryana Kushpler. Sie haucht der Madelon Menschliches ein. Mit mehr als rollendeckender Stimme und berührendem Spiel zeichnet Kushpler die blinde Alte. Wie sie, starr vor sich blickend, mit zittriger Hand ihr Enkelkind hingibt, im nächsten Augenblick doch nicht von ihm lassen kann, widerwillig nur sich die Hände der beiden trennen… Dazu Giordanos großartige Musik dieser Scene… Starken Eindruck empfing ich davon.
Wolfgang Bankl. Copyright: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
Sehr präsent — stimmlich wie darstellerisch — auch Wolfgang Bankl als pfeiferauchender Mathieu. Die Probenzeit als Simon in Dantons Tod: Sie schien mir nicht vergeudet (hie wie da).
Keine Schreckensherrschaft ohne Spitzel, kein Andrea Chénier ohne Incroyable. Carlos Osuna leiht ihm mit dieser Serie erstmals Spiel und Stimme. Mit weicher, vollerer Stimme denn üblich. Im Spiel allerdings: nicht so prägnant, stimmlich so gefährlich wie seine Vorgänger. Das Psychogramm des Maximilien Robespierre, gezeichnet von Thomas Ebenstein: taugliches Vorbild, dem des abzusehen wäre.
Ilseyar Khayrullova war für heutige Verhältnisse eine fast eine rollendeckende Bersi. Donna Ellen bemühte sich als Gräfin di Coigny, Benedikt Kobel mühte sich als L’Abate. Besser traf es da Orhan Yildiz als Roucher, der sich neben Kaufmanns Chénier seine Eigenständigkeit zu bewahren wußte.
VI.
Marco Armiliato leitete Chor und Orchester der Wiener Staatsoper mit sicherer Hand durch jenes Werk, mit welchem er im November 1996 am Haus debutierte: die letzten Vorstellungen, welche Luciano Pavarotti an der Staatsoper sang…
Armiliato übertrug jene Ruhe auf das Orchester, welcher es in den letzten Wochen des öfteren gebrach. Prägnant klang, was aus dem Graben aufstieg, mit wohlgesetzten Höhepunkten, kaum je die Sänger überdeckend. Und dennoch: Dem Abend eignete Statik. Man schien nicht recht vom Fleck zu kommen, das Feuer nicht zu zünden. Als lägen Schatten über der Vorstellung, welche nicht weichen wollten. (Bis es Kushpler und Frontali im dritten Akt gelang, sie zu vertreiben.) Das Vorwärtsdrängende, Mitreißende: Es stellte sich nur phasenweise ein.
VII.
Anja Harteros gibt mit dieser Serie ihr Wiener Rollen-Debut als Maddalena di Coigny. Welche Wunder waren uns berichtet worden aus München… Der Abend machte deutlich: Man glaube nur an Wunder, welchen man selbst beiwohnte.
Gewiß, Harteros zählt zu den ersten Sängerinnen unsere Tage. Und gewiß vermochten andere auf einer in dieser Qualität gesungenen Vorstellung fünf Jahre einer internationalen Carrière zu bauen. Auch ging mit Harteros eine Sängerin zu Werke, die hören ließ, was mit ausgezeichnetem technischen Rüstzeug möglich ist. Was wir im Opernalltag so oft entbehren…
Und dennoch: An diesem Abend blieben Wünsche offen: Da gebrach es Harteros’ Stimme im tiefen Register hin und wieder an Volumen, gerieten die Spitzentöne des öfteren schrill, machte sich übermäßiges Vibrato bemerkbar. »La mamma morta« wohnte Beiläufigkeit inne, ließ das innere Feuer missen. Harteros spielte die Maddalena. Frontali war Gérard.
Bemerkenswert: Wann immer Harteros und Kaufmann sich fanden auf gemeinsamer Scene, schienen sie sich stimmlich gegenseitig anzufeuern, wurde das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Da wurde deutlich, wie gut die zwei einander von vielen gemeinsamen Auftritten kennen. Die beiden Duette im zweiten und vierten Akt bildeten — mit der Chor-Scene aus dem zweiten und Gérards großer Scene aus dem dritten Akt — die Höhepunkte des Abends.
VIII.
Jonas Kaufmann als Andrea Chénier erfüllt die Erwartungen seiner Anhänger. Seine Stimme klingt immer ein wenig verschattet, in einigen Phrasen sogar nasal. Wirklich frei hört sie sich nur an bei den forte-Ausflügen in die oberen Regionen: Da blüht sie auf, erinnert in der Tongebung ein wenig an Franco Corelli.
Kaufmann klingt den ganzen Abend über, als sänge er mit enormem Druck. Er meidet die notierten piani (z.B. in seiner Scene zu Beginn des zweiten Aktes), sucht, wo immer möglich, den großen Ton. Das ergibt dann allerdings große Oper, denn Kaufmann weiß sein Instrument gekonnt einzusetzen. »Un dì all’azzurra spazio« beispielsweise wird mit Finesse vorgetragen. … Und entbehrt dabei doch gleichzeitig jener Leidenschaft, welche den Poeten auszeichnen sollte. (Das gibt es.)
Es scheint, als ob der Münchner an diesem Abend an jedem Ton, jeder Silbe zu arbeiten habe — und Kaufmann ist ein ernsthafter Arbeiter. Der Jubel seines Publikums: Er ist diesmal hart errungen.
Thomas Prochazka
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