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WIEN/ Staatsballett: „IM SIEBTEN HIMMEL“ – ein Ballettgott und so einige Psycho-Defekte. Premiere

15.11.2021 | Ballett/Performance

Premiere des Wiener Staatsballetts in der Staatsoper:

„IM SIEBTEN HIMMEL“ – ein Ballettgott und so einige Psycho-Defekte (14.11.2021)

Vorsicht! Gar so schnell gelangt man doch nicht in den siebenten Himmel. Auch wenn sich das Wiener Staatsballett an diesem Premierenabend in jedem der drei Piecen in feiner Form präsentierte. In einem etwas eigenartig gestalteten, wohl aber auch als kreativ zu bezeichnendem Programm mit dem Übertitel „im siebten himmel“. Oben, in aller Höhe, erweist sich einmal mehr Jahrhundert-Choreograph George Balanchine als Ballettgott, dessen „Symphony in C“ als prickelnd getanzter Schlusspunkt mit all seinen edlen Harmonie dem Ballettfreund sehr wohl so etwas wie himmlische Freude zu vermitteln vermag. Am Weg dorthin: Zwei sehr kompakte, durchaus seriös erarbeitete Stücke, welche aber nicht in schwindelnde Höhen sondern zuerst einmal ziemlich abseits von Wiener Walzerseligkeit und hierauf in bedrohliche menschliche Tiefen führen.

Im siebten Himmel | Spielplan & Kartenkauf | Wiener Staatsoper
Copyright: Ashley Taylor/ Wiener Staatsballett

Wiens Schweizer Ballettchef Martin Schläpfer griff 2006 ins unverwüstliche Repertoire der Strauß-Dynastie. Angeschrieben: „marsch, walzer, polka“. Klar, als unverkennbarer Eidgenosse geht man dem Versuch nach, solch Polkafreuden und musikalische Finessen im Dreivierteltakt mit bemüht originellem, wohl auch leicht schwarz angehauchtem Humor zu karikieren. Schläpfer beherrscht ein reiches Bewegungsmaterial, doch wie viele Pluspunkte er beim heimischen Publikum mit seiner nun hier einstudierten Episodenfolge ohne echten Walzerrausch erzielen kann mag abzuwarten sein. Der Donauwalzer erklingt, mit einem ausdrucksstarken, sehr diffizilen Solo leitet Ketevan Papava die Walzerkette ein. Und eine kalt-groteske Pantomime eines zwängig militanten Einzelgängers mit Ladehemmung zum hier glanzlosen Radetzky-Marsch setzt den Schlusspunkt. Dazwischen, auf stets dunkler Bühne, blühen keine Praterbäume, sondern eine à la Rokoko angehauchte Naturlandschaft verschwimmt in der Düsternis und ein phantasievolles buntes Kostüm-Mix lässt sich nicht so wirklich einordnen (Ausstattung: Susanne Bisovski). Getrennt, nicht ineinander greifend wird erzählt: Annen-Polka, Neue Pizzicato-Polka, die „Spährenklänge“. Manch feine tänzerische Pointe, nette Gags, alles durchaus akzeptabel, doch so ein richtiges Aufrauschen zu dieser stets feurigen Johann Vater & Sohn & Josef Strauß-Musik bleibt aus.


Copyright: Ashley Taylor

„fly paper bird“ steht als Uraufführung und als Nummer zwei am Programm. Choreograph Marco Goecke aus Wuppertal, Jahrgang 1972, kommt aus der deutschen Tanzszene und kann auf ein umfangreiches Schaffen verweisen. Seine Stärke, wie es sich gehört: konsequent durchgezogenes perfektes Handwerk, das Erarbeiten einer dichten Atmosphäre. Aber auch, in zeitgenössischer Manier, voll beladen mit Psycho-Defekten. Der Mensch – oder hier dem Titel vielleicht folgend: paper birds – als zerbrechliches, in Angst versetztes Wesen. Die Sätze zwei und vier (das berührende Streicher-Adagietto) aus Gustav Mahlers 5. Symphonie erklingen, bieten ein berauschendes Klangbad. Auf Mahlers Rücken, doch ohne dem gewaltigen Melodienstrom folgend, führt Goecke auf dunkler leerer Bühne eine wahre Zitterpartie vor. In fulminanter Gebärdensprache mit blitzschnellen Abläufen, mit kaum unterbrochenem Wirbel der Arme, mit hässlich aufgerissenen Mündern, die Finger zu Krallen geformt, nervig die Körper der Partner checkend …. Vögel oder bereits Skelette, doch noch keine Toten? Aufzuckende Mumien? Kaputte Menschen, das bevorstehende Überrollen Europas durch die Chinesen fürchtend? Die schließlich im düsteren Bild auftauchenden eleganten breiten Vogelschwingen erheben sich kaum, geben dieser mutlos und flügellahm gewordenen tristen Gesellschaft keine Antwort. 

Hierauf aber dann mit allem Glanz ab ins große Finale! George Balanchine bleibt doch der bewundernswerteste Choreograph des 20. Jahrhunderts. Seine „Symphony in C“ auf Georges Bizets sprudelndes Jugendwerk ist getanzte Poesie, zelebriert absolute Schönheit. 1947 für das Pariser Opernballett choreographiert und den russischen Romantik-Klassikern ebenbürtig. Hier herrscht reinste Harmonie, und gedient wird sowohl der Musik wie der Ästhetik der Tänzer und deren Zuseher. Ein von der Balanchine-Ballerina Patricia Neary nun erneut in Wien einstudiertes Schauvergnügen: Das feurige Prachtpaar Kiyoka Hashimoto und Davide Dato, Liudmila Konovalova mit aller Disziplin in elegischer Noblesse, elegant Hyo-Jung Kang und Masayu Kimoto, Sonia Dvorák und Roman Lazik, Neuzugang Alexey Popov bei seinem Debüt und …. die ganz Kompanie gibt dem ganzen Abend lang ein erfreuliches Lebenszeichen von sich. 

Weniger herausfordernd läuft es für das Opernorchester mit der in die Ohren gehenden Musikkost unter der musikalischen Leitung von Patrick Lange. Beim Treffen von Ballettgott Balanchine mit seinen suchenden Nachfahren und den dabei gar nicht so wenigen Reibepunkten ist kontroversielles Denken durchaus erlaubt.  

Meinhard Rüdenauer

 

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