WIEN/ ImPulsTanz: Meg Stuart & Francisco Camacho / Damaged Goods & EIRA mit „steal you for a moment“ im Schauspielhaus Wien
Sie bereisten gemeinsam Sardinien, besuchten Ruinen der Jahrtausende alten, mysteriösen Nuraghen-Kultur der Insel und fanden dort Inspiration für ihr erstes gemeinsames Duett auf der Bühne. Die Tänzerin, Choreografin und Regisseurin Meg Stuart, sie wurde unter anderem 2018 auf der Biennale di Venezia mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk geehrt, und der portugiesische Choreograf, Performer und Tänzer Francisco Camacho arbeiten bereits seit über 30 Jahren zusammen. Mit „steal you for a moment“ setzen sie ihrer Freundschaft ein Denkmal.
Meg Stuart & Franciso Camacho: „steal you for a moment“ (c) Laura Farne
1991 arbeiteten sie das erste Mal zusammen. Einen Höhepunkt bildet das von Camacho seit 2007 getanzte, weltweit gefeierte Solo „Blessed“, in dem der Regen seine Hütte aus Pappe langsam zerstört. In seiner bislang 40-jährigen Karriere entwickelte er 22 Gruppen- und 20 Solo-Stücke, war an weiteren elf Projekten beteiligt und gründete 1996 EIRA, einen „Platz für Tanz“ in Lissabon.
Für diese Österreichische Erstaufführung hat Meg Stuart bewusst die Bühne eines kleineren Hauses gesucht. Die Nähe zum Auditorium respektive die räumlich reduzierte Entfernung zu den Performenden bringt die Intimität auf der Bühne auch in die Beziehung zwischen PerformerInnen und Publikum.
Der vielseitige, 1984 geborene und sich hier zeitweise auch performativ beteiligende Künstler Gaëtan Rusquet, sein besonderes Interesse gilt der Beziehung zwischen Materie und Bewusstsein, schuf ein Bühnenbild aus aufgeklebten Strahlen, ausgehend von mehreren Punkten, sich kreuzend, bis in den Zuschauerraum reichend, und Objekten aus Holz: Pyramiden, Platten, Winkel. Alle sind irgendwo an einer Kante schief, und passen am Ende doch perfekt zusammen. Und manches ist aus Sand gebaut.
Wie schön ist allein dieser Aspekt, der dem Drang nach Optimierung und Vollkommenheit entgegenhält: Habe Vertrauen! Es ist alles richtig so. Es findet sich und zueinander. Es passt. Du passt. Später schickt er grüne Streifen aus Laserlicht durch das Theater. Anfangs noch gerade, dann kippen die Ebenen. Die Zukunft scheint sich anzumelden. Aus Kontrolle wird Ungewissheit, jene Unschärfe des Stuartschen Kosmos, der ihre verschlüsselten Stücke prägt und für manche so schwer fassbar macht. Und er installiert ein langes Pendel, erinnernd an das Foucaultsche, das von einem Wummern begleitet den unteren Totpunkt passiert. Aber für den Nachweis der Erdrotation bleibt an diesem Abend keine Zeit. Der Zweifel am Stillstand genügt.
Frösche quaken am Anfang und am Ende. Der Sounddesigner Vincent Malstaf lässt es krachen und wimmern, er setzt elektronischen Sound, Klangsplitter und Klaviermusik neben eingespielte Songs. Holländische Stimmen und sardische Folklore. Am prägnantesten wohl der Song „We Float“ von PJ Harvey, in dem sie davon träumt, dass „wir eines Tages dahingleiten werden und das Leben nehmen, wie es kommt“.
Meg Stuart bleibt sich treu in der Formensprache der inszenierten Kommunikation. Zwischen durchchoreografierten Sequenzen und konzentrierter Improvisation erlebt man völlig entspannte Atmosphäre mit Neckereien und Geplauder. Spannungsbögen sind ganz ihre Sache. Wir sehen Silhouetten von Emotionen, alten und frischen, hören den Nachhall dessen, wozu sie sie gemacht haben und machen in sich. Wir werden Zeugen eines stetigen Wandels, einer profunden Diskontinuität. Über allem aber hängt jene schützende Glocke aus einem durch nichts zu erschütternden spirituellen Vertrauen in das Leben, also die Kunst. Wenn alles ungewiss ist und veränderlich, hier liegt die Basis ihrer künstlerischen und privaten Nähe.
Was die beiden zusammenführte und -hält ist ihr Focus auf die Innerlichkeit, auf eine Tiefe, die von unten nur leise klopft an Oberflächen aus Gesten und Tanz. Und gerade das verleiht diesen Gesten ihr Gewicht. Ungewissheit und Angst, Möglichkeit und Fantasie, Vergänglichkeit und Gegenwärtigkeit, Intimität und Respekt, Selbstvergewisserung und Perspektivenwechsel, Zwänge und Zulassen, Annäherung und Verstoßen, Orientierungslosigkeit und Fallen, Forschergeist und Zweifel, Zärtlichkeit und Trost, Nähe und Distanz, zwischen Konflikt, tiefem Verstehen und der Suche nach Gemeinsamkeiten, Profanem und Profundem und, natürlich, mit Humor.
Das Stück wird belebt von einem ungeheuren Reichtum an Aspekten und den Beziehungen zwischen diesen, die gestisch, mit Worten, Objekten, Musik und Licht zu einem hoch komplexen, partiell wirklich nahegehenden Reigen aus Situationen, Stimmungen und Atmosphären verflochten werden. In brüchiger hölzerner Rüstung steht Camacho auf einem Sockel. Seine unbeholfenen Versuche des Selbstschutzes und der Gegenwehr sind rührend skurril. Als wären Freiheit und Überleben der Kunst und der Kunstschaffenden verhandelbar in Zeiten der konsequenten Kapitalisierung aller Bereiche des Lebens. Selbst die Klimakatastrophe findet ihren Platz. Mit Stirnlampen, Archäologen gleich, begeben sie sich auf die Suche nach dem Dunklen in uns, nach den Schatten auf unserer Seele.
„steal you for a moment“ schlägt vor, nicht nur für diese 100 Minuten Erwartungen abzuschaffen, loszulassen, zuzulassen und sich hinzugeben, sich damit einer inneren Freiheit anzunähern, die jeden Widerstand ad absurdum führt. Und dann zu schauen, was passiert. Und das ist überraschend viel. Die Arbeit ist in ihrer historisch-gegenwärtigen Zukünftigkeit und mit der köstlichen Vieldeutigkeit ihrer Bilder nicht nur ein Tauchgang in die Beziehung zwischen diesen beiden großen KünstlerInnen, sondern ebenso, und vielleicht viel mehr, eine komplexe Metapher für ein Leben, für eine Epoche und für das Menschsein überhaupt.
Nachdem Gaëtan Rusquet die hölzernen Fragmente zu einem Ruinenfeld konzentrierte, plaudern Stuart und Camacho neben den Bruchstücken einer unbekannten Vergangenheit und wie in der Sonne Sardiniens auf dem Rücken liegend. Sie entdecken Privates, als würden sie sich gerade erst kennenlernen, und weisen damit in eine Zukunft, die zu beginnen scheint mit dem Verlöschen des Lichts.
Am 27.07.2025 stellte Meg Stuart ihr neues, zweites Buch „Let’s Not Get Used to This Place“ in der Roten Bar des Volkstheater Wien vor. Ein aufwändig gestalteter Abriss ihres Schaffens der letzten 15 Jahre mit Beiträgen vieler ihrer Kollaborateure.
Meg Stuart & Francisco Camacho / Damaged Goods & EIRA mit „steal you for a moment“ am 31.07.2025 im Schauspielhaus Wien im Rahmen von ImPulsTanz.
Rando Hannemann