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WIEN / Scala: DIE ZIEGE ODER WER IST SYLVIA?

04.06.2013 | Theater

WIEN / Scala:
DIE ZIEGE ODER WER IST SYLVIA? von Edward Albee
Premiere: 1. Juni 2013,
besucht wurde die Vorstellung am 4. Juni 2013

Eine Geliebte namens Sylvia würde die Gesellschaft, würde am Ende vielleicht auch die Ehefrau einem erfolgreichen Mann in mittleren Jahren verzeihen – zumal, wenn sie blond und hübsch wäre. Aber Edward Albee, einer der trickreichsten und unbarmherzigsten Dramatiker der USA, hat nicht nur Familie und Freunde des Architekten Martin Gray auf der Bühne schockiert, sondern auch das Publikum, als er 2002 mit seinem Stück „The Goat or Who is Sylvia?“ eine Ziege als Geliebte ins Spiel brachte. Und dabei war Sodomie eigentlich nur ein Thema am Rande in dieser mehr als seltsamen Geschichte.

Ein fünfzigjähriger Architekt, beruflich sehr erfolgreich und überdurchschnittlich gut verheiratet mit einer intelligenten, liberalen, dem Sex mit ihm zugetanen Frau (wie oft findet sich das schon im Leben?), ist völlig aus den Schuhen gekippt. Sanfte Augen haben es ihm angetan – aber es war eine Ziege, die in ihm diesen Gefühlssturm ausgelöst hat… Hilfsgruppen gibt es in Amerika für alles, also auch für jene, die man als „Sodomisten“ bezeichnet – die auch sexuell mit ihren Hunden, Katzen, Gänsen, Ziegen verkehren.

Aber eigentlich und vor allem geht es Martin um das tiefe, echte, unwiderstehliche Gefühl, das Sylvia in ihm ausgelöst hat. Und dieses Abweichen vom Herkömmlichen kann niemand verzeihen – nicht die Gattin, nicht der beste Freund, nicht einmal der schwule Sohn, der doch ein bisschen Verständnis haben sollte. Wobei die Mitwelt nicht nur der (gewissermaßen auch verständliche) Ekel schüttelt, sondern auch die Angst vor den gesellschaftlichen Folgen im Raum steht…

Was wie eine Komödie im eleganten Rahmen einer New Yorker High-Standard-Wohnung beginnt und immer wieder mit grimmigem Humor durchzogen ist, bleibt ein Prüfstein der Toleranz: auf der Bühne und zwischen Bühne und Zuschauerraum. Das ist 2013 nicht anders als 2002 bei der Uraufführung.

Die Wiener Erstaufführung 2003 im Akademietheater, damals unter der Regie von Andrea Breth, ist mit der Vielschichtigkeit der Geschichte scharf und gnadenlos umgegangen. Die nunmehrige Aufführung in der „Scala“ weiß, dass es bei Albee immer um „empfindliches Gleichgewicht“ geht. Hier kommen ein Regisseur und vier Darsteller der Sache „sanfter“ viel näher (obwohl die Wohnung eindrucksvoll-schaurig zertrümmert wird) – und vermitteln auch einem Publikum, dass es um Gefühle, um Menschliches und nicht um Tierisches geht. Die Zuschauer wirkten gänzlich verständnisvoll. Oder ist das Schocklevel so bedeutend gesunken, dass man heutzutage gar nichts mehr an dieser an sich „absurden“ Sache findet?

Regisseur Marcus Ganser ließ sich von Walter Vogelweider ein nicht nur nobles, sondern auch hervorragend bespielbares Appartment bauen. Darin herrscht eindeutig die Frau des Hauses: Es ist ein Gewinn für die „Scala“, dass man die nach Emmy Werners Volkstheater-Zeiten (wo sie ein Star am Haus war) in Wien „heimatlose“ Babett Arens eingefangen hat und hier einsetzen konnte. Denn Albee fordert der Ehefrau ein Furioso ab, das nicht nur mit Intuition zu erspielen ist, sondern auch größte handwerkliche Fähigkeiten verlangt. Brillant.

Bemerkenswerte Fähigkeiten zeigt auch der Neffe der Genannten, Aaron Arens, der als ihr Sohn auf der Bühne steht. Allein seine Sprache und Sprechtechnik heben ihn weit über das meiste hinaus, was heute an jungen Schauspielern auf die Bühne gespült wird. Der unsichere Billy, fast noch halbwüchsig, der sich einerseits zwischen geliebten Eltern aufgerieben sieht, andererseits seine eigenen, schwulen Probleme hat (da leistet sich Albee noch einen weiteren, schockierenden Ausritt in schwer „abweichendes“ Verhalten, wenn er sich plötzlich von eigenen Vater sexuell angezogen fühlt), ist von bemerkenswerter Bühnenpräsenz.

Am Rande, aber wichtig als Funktion und auch Person, ist der Freund, der Martins Geheimnis verrät, aus Loyalität zu dessen Gattin, wie er meint, und der seinen Abscheu einfach nicht verbergen kann: perfekt Georg Kusztrich.

Inmitten des Sturms der anderen steht der Mann, der seine Gefühle nicht mehr verbergen kann, wie das so ist, wenn einem schwer und bange, aber auch selig ums Herz ist: Rüdiger Hentzschel spielt die ganze Gefühlsskala durch, von Behaupten bis Zurückweichen, von Entschuldigungsritualen bis zu „Hier steh ich, ich kann nicht anders“. Wenn er sich am Ende über den Kadaver der von seiner Frau getöteten Ziege wirft, die als „Opfer“ gefallen ist, hat Albee an griechische Tragödie gedacht. Die Aufführung, von Marcus Ganser mit aller Instinktsicherheit geleitet, erinnert ohne Peinlichkeit und Kleinlichkeit an nicht weniger als das. Da machen sich weder ein Stück noch eine Aufführung klein.

Renate Wagner

 

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