Foto: VBW / Jiangsu Centre for the Performing Arts
Ronacher Tang Jianping (1955*) DIE TAGEBÜCHER VON JOHN RABE 9.7. 2019
Hand aufs Herz. Wem von uns ist jemals der Name „John Rabe“ begegnet? Mir jedenfalls war der 1882 in Hamburg geborene und 1950 in Berlin verstorbene deutsche Kaufmann John Heinrich Detlef Rabe völlig unbekannt. Wegen seiner humanitären Verdienste um die chinesische Zivilbevölkerung im zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg wurde er auch als der „Oskar Schindler Chinas“ oder der „zweite Schindler“ und in China als der „deutsche lebende Buddha“ oder „der gute Deutsche von Nanjing“ bezeichnet. Er arbeitete als Geschäftsführer der Siemens & Halske-Niederlassung in Nanking, so der alte Name der ehemaligen Hauptstadt der Republik China. Rabe sprach Hochchinesisch, Kantonesisch, Japanisch und Englisch. Trotz seiner Parteimitgliedschaft bei der NSDAP handelte er durch Errichtung einer Sicherheitszone pazifistisch. Die Handlung der Oper dreht sich um jene 170 Tage in Nanking im Winter 1937/38, in deren Verlauf über 250.000 Menschen auf grausame Weise ihr Leben durch die japanischen Invasoren verloren. Von einer kleinen Gruppe ausländischer Ärzte, Missionare und Geschäftsleute, darunter Wilhelmina Minnie Vautrin (1886-1941) und John Gillespie Magee (1884-1953), wurde während dieses Infernos eine Schutzzone als einziger Zufluchtsort eingerichtet. Unter der Führung von John Rabe verteidigten sie das Flüchtlingslager mit äußerster Hingabe und retteten so mehr als 200.000 chinesischen Zivilisten das Leben.
Der Komponist Tang Jianping wurde 1955 in Liaoyun, Provinz Jilin im Nordosten Chinas geboren. Er studierte Komposition ausschließlich in China. Sein Oeuvre umfasst die unterschiedlichsten Gattungen und Stilrichtungen, einschließlich elektronischer Kompositionen, Werke für ethnische Instrumentalensembles, sowie Musik für Film und Fernsehen. Die Oper „Die Tagebücher von John Rabe“ wurde am 13.12.2017, genau 80 Jahre nach dem Beginn des „Nanjing-Massakers“ im Opernhaus des Jiangsu Centre for the Performing Arts uraufgeführt. Die gesamte Komposition wird wie ein tragischer roter Faden durch Johann Sebastian Bachs Orgelkomposition Passacaglia (und Fuge) in c-moll durchzogen. Das musikalisch wichtigste Thema in dieser Oper aber ist die Liebe, die zu Beginn und gegen Ende der Vorstellung von einem Geiger auf offener Bühne vorgetragen wird und ein Arrangement Bach’scher Kompositionen sowie Melodien, die das chinesische Lebensgefühl widerspiegeln, darstellt. Zahlreiche gewaltige orchestrale Ausbrüche, ohne direkte musikalische Zitate zu verwenden, erinnerten mich stilistisch bisweilen an Schostakowitsch und Mussorgski. Gegen Ende war noch ein kurzes Zitat aus Wagners Ouvertüre zu Rienzi deutlich zu hören. Jedenfalls verriet die Partitur höchstes handwerkliches Geschick und bei allem Eklektizismus doch eine musikalisch eigene Handschrift des Komponisten. Das Libretto in zwei Akten verfasste Zhou Ke, Lehrerin an der Shanghai Theaterakademie, auf Grundlage der erst 1996 wiederentdeckten Tagebücher von John Rabe. Auf die in Nanjing aufgewachsene Regisseurin Mo Zhou hinterließ der jährlich am 13. Dezember in der ganzen Stadt erklingende Luftverteidigungsalarm zum Gedenken an jene Menschen, die in diesem Holocaust getötet wurden, einen tiefen Eindruck. Als sie mit 18 Jahren China verließ, war sie überrascht, dass nur wenige Menschen in der westlichen Welt jene tragischen Ereignisse von Nanking kannten. In den Vereinigten Staaten gilt sie als eine der herausragenden Opernregisseurinnen. Die in Großbritannien ansässigen Bühnenbildnerin Wang Jing stellte drei den zerbrochenen Nanjinger Stadtmauern aus der frühen Ming-Dynastie nachempfundenen Trümmern, repräsentativ für das Leid der Bevölkerung und die Zerstörung der Stadt, auf die Bühne. Die historisierenden Kostüme wurden von Andrea Hood entworfen. Wang Jing steuerte die spannende Choreographie der Massenszenen bei. Masha Tsimring leuchtete die Bühne sensibel ein und Nicholas Hussong steuerte das Multimedia-Design für die Kriegsszenen bei.
Chor-Szene: Foto: VBW / Jiangsu Centre for the Performing Arts
Mit zwei Ausnahmen stammten alle Sänger und Sängerinnen aus China. Der chinesische Tenor Xue Haoyin, durch die Maske deutlich gealtert und europäisiert, gab einen stimmgewaltigen Titelhelden John „Labe“. Auchtung: im Chinesischen gibt es kein „R“, sodass sein Name „Labe“ ausgesprochen wurde. Xu Xiaoying glänzte mit ihrem ausdrucksstarken Sopran und ihrer subtilen Rollengestaltung als amerikanische Schulleiterin und Missionarin Minnie Vautrin. Tian Haojiang unterlegte die Rolle des Missionars John Magee mit seinem voluminösen Bass. Bariton Tong Meng gefiel als Oberst Huang, der nicht bereit ist, zu kapitulieren. Zhang Jiayu wirkte mit ihrem schrillen Sopran besonders ergreifend in der Rolle der hochschwangeren Li Xiuying, deren ungeborenes Kind in ihrem Leib mit 37 Stichen getötet worden war. Bariton Guo Yafeng ergänzte rollengerecht als Han Xianglin, wer immer das auch gewesen sein mag. Google schweigt sich über diese Person aus, ebenso das Programmheft. Der japanische General wurde pompös und stolz von Bariton Zhang Dongliang in Szene gesetzt. Tenor Xia Xintao sowie die Baritone Liu Yudong und He Feng ergänzten als japanische Offiziere Yamamoto und Ikeda und als eiskalter, menschenverachtender japanischer Botschafter Fukuda. Krankenhausarzt Dr. Robert Wilson wurde von dem US-amerikanischen Tenor Tom Mulder mit gut geführter Stimme vorgetragen. Pastor Mills wiederum von dem US-amerikanischen Bariton José Rubio. Beide wurden zum iSing ! Internationalen Nachwuchssängerkunstfestival Suzhou eingeladen. Hou Yihao hatte einen kurzen Auftritt als Achtjähriger Knabe im Spital, der mitansehen musste, wie seine Mutter und sein Bruder von Bajonetten durchbohrt wurden. Das Violinen-Solo auf der Bühne wurde besonders einfühlsam von Xu Yang gespielt.
Das Symphony Orchestra der Jiangsu Performing Arts Group ergänzt durch das Suzhou Symphony Orchestra wurde von dem Pianisten und Dirigenten Xu Zhong voller Energie mit Verve geleitet. Er ist u.a. auch Chefdirigent des Sommermusikfestivals in Verona und musikalischer Leiter des Opernhauses Haifa.
Das Ronacher war sehr gut ausgelastet und lediglich einige wenige Plätze waren frei geblieben. Gesungen wurde in chinesischer Sprache mit chinesischen und deutschen Übertiteln. Die Aufführung samt Pause dauerte etwa drei Stunden. Das Publikum schenkte allen Beteiligten an dieser Produktion begeisterten Applaus, dem sich der Rezensent gerne anschloss. Nachdem dieser das Ronacher verlassen hatte, konnte er noch eine Bemerkung eines noch älteren Besuchers aufschnappen, der sinngemäß meinte: „Weder das Thema sei interessant gewesen, noch die Musik!“ Tja: De gustibus non est disputandum!
Harald Lacina