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WIEN / Reaktor: Österreich-Premiere THE BUTTERFLY EQUATION

Wer wird die neue Madama Butterfly?

24.09.2024 | Oper in Österreich
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Giuseppe Nitti (Joy Pinkerton) und Sängerin. Alle Fotos: MusikTheaterTageWien / Barbara Pálffy

WIEN / Reaktor Opern-Überschreibung THE BUTTERFLY EQUATION

23. September 2024 – Österreich-Premiere

Von Manfred A. Schmid

Die österreichische Erstaufführung der „Opern-Überschreibung“ The Butterfly Equation des österreichischen Komponisten, Autors und Regisseurs Thomas Cornelius Desi findet im Rahmen des noch bis zum 28. September laufenden Festivals MusikTheaterTageWien statt. Ausgangspunkt dieser „Oper über eine Oper“, ist eine Art Casting Show, in der ein Mann, Juror und Sohn der Butterfly, der tragischen Heldin in Puccinis Oper, fünf Sopranistinnen für die Rolle der Titelfigur der vor 120 Jahren uraufgeführten Oper vorsingen lässt. Aus der Castingshow wird alsbald eine Realityshow, da es der Juror in der Konfrontation mit den Sängerinnen mit jüngeren Frauen zu tun hat, die alle seine Mütter sein könnten und ihm mit ihren traumatisierten Biografien mögliche Eigenschaften und Erfahrungen seiner Mutter, die er ja kaum gekannt hat, vor Augen führen. Der Komponist Desi, auch einer der Leiter des Festivals, transportiert die Protagonisten der Oper in die Gegenwart, so dass hier unterschiedliche Zeiten und Existenzformen aufeinandertreffen. Auf einer zweiten Ebene verbergen sich hinter diesen Sängerinnen auch fünf Frauen aus dem Leben Giacomo Puccinis. Rollen, Namen und Dialogtexte weisen deutliche Bezüge zu Puccinis Biografie auf, die Desi für die Erstellung des Librettos ebenso studiert hat wie dessen Briefe. Eine Kandidatin heißt Elvira, wie Puccinis Frau. Corinna, Giulia und Josi tragen Namen seiner Geliebten. Doria verweist auf dessen Haushaltshilfe, die von Elvira grundlos des Ehebruchs beschuldigt wurde und Selbstmord beging. So werden die Vorsängerinnen zu Gespenstern aus Puccinnis wie auch aus Joy Pinkertons Vergangenheit.

Die Talenteshow im ersten Teil von The Butterfly Equation, eine Koproduktion der MusikTheaterTageWien mit dem Chigiana International Festival und in Kooperation mit der Universität Mozarteum Salzburg, kann z.T. auch als kritische Auseinandersetzung mit sexistischen Elementen in derartigen Veranstaltungen verstanden werden. Von der alten „Besetzungscouch“ im Intendantenzimmer bis zum „Me-too“ der heutigen Zeit. Der Juror stellt unzulässige Fragen und agiert zuweilen etwas übergriffig, eine der Kandidatinnen hinwiederum nützt die Gelegenheit, mit dem Einsatz erotischer Reize ihrer Chancen zu erhöhen.

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Giuseppe Nitti

Im zweiten Teil befasst sich Desi mit der Frage „Welche psychischen Disposition hat dieses traumatisierte Kind?“. Das Ergebnis ist ein überaus packendes Psychodrama. Der Juror versetzt sich in seine Rolle als Sohn Butterflys. Er wird wieder zum jungen Bub, der ihr schließlich das rituelle Schwert überbringt, mit dem schon sein Großvater seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Und der dann zum Spielen hinaus in den Garten geschickt wird und schließlich von Kate Pinkerton und ihrem Mann. seinem Vater, einst Offizier auf dem US-Schiff „Abraham Lincoln“, nach Amerika mitgenommen wird.  Hat er Schuld am Tod seiner Mutter, weil er ihren Selbstmord nicht verhindert hat, sondern ihr dabei sogar behilflich war? Giuseppe Nitti gestaltet diese schmerzliche, verzweifelte Rekonstruktion der letzten gemeinsamen Minuten, indem er sich in eine Geisha verwandelt, sein Gesicht weiß und rot schminkt, ihr Kleid überzieht, eine schwarze Perücke aufsetzt und schließlich selbst zum Schwert greift und sich umbringt. Ein bewegendes, ergreifendes, großartig gestaltetes Finale, einer „überschriebenen“ Puccini Oper mehr als würdig und eine Bestätigung des Untertitels von Thomas Cornelius Desis „Versuch der Entschleunigung der Welt anhand von Puccinis Oper“. Er nennt sein Werk „Eine musiktheatrale Talente-Show zum 100. Todesjahr von Giacomo Puccini.“

Die fünf Sängerinnen aus dem Mozarteum Salzburg – Olena Ertus, Laura Igl, Ami Mizuno, Anja Rechberger und Laura Thaller – die im ersten Teil die Arie „Un bel dì vedremo” zu interpretieren haben, gestalten diese Beschwörung der Hoffnung sehr individuell, da sie von Desi für jede auch sehr unterschiedlich kompositorisch „überschrieben“ sind. Sie unterscheiden sich in Tempo und Melodie, aber auch stimmungsmäßig und emotional. Persönliche Schicksale und Traumata spielen hinein, so dass von der Hoffnung im Original kaum mehr etwas zu vernehmen ist. Der Juror namens Joy, was so viel wie „Freude“ heißt, ist nicht in der Lage, eine Wahl zu treffen. Die innere Zerrissenheit, die hinter den Interpretationen steht, kommt ihm wohl zu nahe und trifft auf einen wunden Punkt in seinem eigenen Gemüt. Genau jenen Punkt, wo er aufhört, Joy Pinkerton zu sein und zum Sohn der japanischen Geisha Butterfly wird. Im zweiten Teil kommentieren die Sängerinnen, nunmehr als Quintett, seinen Weg in die Vergangenheit, meist gemeinsam und stets in hoher Tonlage. Und zeigen dabei, was nicht zur Beruhigung beiträgt, mit ihren Messern immer auf ihn.

Das Chigiana Keyboard Ensemble, bestehend aus den Pianisten Luigi Pecchia, Pierluigi Di Tella, Monaldo Braconi, Danilo Tarso, Francesco De Poli, entlockt den präparierten Flügeln, während die Musiker oft die Positionen wechseln und einmal sogar alle an einem Instrument im Einsatz sind, rhythmische und melodiöse Einwürfe, die Puccinis Musik rudimentär aufgreifen und spannungsgeladen weiterspinnen. Brillante Koordination und expressive Klänge, Geräusche, Klopfen und Hämmern, Rauschen und Rascheln, Kratzen und Schnarren, unter der musikalischen Leitung des Komponisten Thomas Cornelius Desi und in der fesselnden Inszenierung von Alessio Pizzech.

Ein außergewöhnlicher Puccini-Opernabend in einem außergewöhnlichen Rahmen, dem Reaktor im ehemaligen Grand Etablissement Gschwandner im 17. Bezirk. Wer sich für zeitgemäßes, heutiges Musiktheater interessiert: Es gibt Veranstaltungen des Festivals MusikTheaterTageWien, auch an anderen Orten, noch bis einschließlich 28. September.

 

 

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