Premiere im Wiener Raimund Theater: Allzu viel Geschrei um „MISS SAIGON“(23.1.2022)
Oedo Kuipers (Chris), Vanessa Heinz (Kim). Foto: Matt Crocket
Diese „Miss Saigon“, Jahrgang 1989, ist sie auch eine wahre Schönheit? Attraktiv zwar, doch wohl nicht so ganz, wie sie von den Musical-Vermarktern der Vereinigten Bühnen Wien beworben wird. Immerhin, Komponist Claude-Michel Schönberg und Autor Alain Boublil haben ihren erfolgreichen „Les Misérables“ ein knappes Jahrzehnt später ein weiteres Musical folgen lassen, welches sich im (an neuen Stücken verarmten) internationalem Musical-Reigen einen guten Platz zu sichern wußte. Der Musical-Produzent Cameron Mackintosh hat seine Londoner Inszenierung jetzt den Wienern verkauft – und für das Premierenpublikum im renovierten Raimund Theater hat sich „Miss Saigon“ auch als szenischer Hit erwiesen.
Laut und recht derb beginnt die Show im Saigoner ‚Dreamland‘-Nachtklub, und extrem laut und mit rüde ausgespielten Aggressionen voll gepackt geht es bis zum Suizid der Titelfigur. Saigon 1975, die US-Soldaten müssen geschlagen das Land verlassen, die Vietcongs kommen an die Macht – und die blutjunge Kim (Vanessa Heinz mit einem erfolgreichen Bühnendebüt) bleibt mit ihrem noch ungeborenen Kind zurück. Der Kindesvater, GI Chris (Oedo Kuipers, attraktiver Junge) ist verzweifelt bemüht, seine hilflose Geliebte im irren Gedränge um den rettenden Hubschrauber – dröhnend wirkungsvoll landend, doch auch wieder nicht gar so toll – mitzunehmen. Es gelingt ihm nicht. Kim bekommt ein Kind von Chris. Dieser heiratet inzwischen in seiner Heimat, kommt mit seiner Gattin nach drei Jahren wieder nach Asien …. keine Chance zur Erwiderung von Kims ungebrochener Liebe, die Hoffnungslose sucht den Freitod.
Das erinnert doch …. ja, „Madame Butterfly“, genau! Und dies lässt an die Unterschiedlichkeit der Geisteskulturen am Beginn des 20. Jahrhunderts wie in dessen späten Jahren denken. Puccinis übersensiblem Musikdrama aus dem Jahr 1904, reich an ergreifenden melodischen Schönheiten, steht nun ein Erfolgsstück gegenüber, welches mit wiederholt erprobten theatralischen Raffinessen ein breites Publikum anzusprechen vermag. Das Stück hat seine Qualitäten. Doch Musikfreunde mit feineren Ohren können ihre Qualen an der hier nun besonders gepflegten Gesangsmanier mit den unnatürlich gepressten, lang angehaltenen, rau herausgebrüllten und dazu noch elektronisch verstärkten Tönen haben. Keineswegs klangschönen. Das soll Expressivität, totale Hingabe, Glaubwürdigkeit der Darsteller vermitteln. So mit gut gespielter Mimik vorgesetzt nimmt es wohl auch ein Großteil des Publikums auf.
Oedo Kuipers (Chris), Vanessa Heinz (Kim). Foto: Matt Crocket
Claude-Michel Schönbergs musikalisches Raster spricht durch seine lebendigen, impulsiv wechselnden, zumeist rhythmisch akzentuierenden, mal mit apartem Sound aufwartenden Floskeln an. Nur gelegentlich, wie in der perfekt arrangierten Shownummer „The American Dream“, wird eine Linie stringent durchgezogen und ausgekostet. Dirigent Herbert Pichler zieht dies alles flott und energisch durch, ein schallendes Klangbad ist andauernd gegeben.
Christian Rey Marbella. Copyright: Johan Persson
US-Soldaten und Vietcongs und neckische Girls dazu – da geht es nun einmal recht hektisch hin und her, wird viel zu viel herum geschrien. Im erotischen Nachtklub wie in den grimmigen soldatesken Paraden, in den Kontroversen der diversen Rivalen, in deren psychischen Verhaltensweisen. Ohne Beschönigungen, ohne besonders feine Charakterzeichnungen, ohne Witz. Das wird handfest ausgespielt. Besonders suggestiv von Christian Rey Marbella, welcher sich als‘ Engineer‘, als verschlagener Clubchef und Drahtzieher in den Vordergrund rückt. Das eingeladene Leading Team, die übrige Besetzung: Hier keine bekannten Namen, doch gekonnt erledigte Arbeit. Eine Stärke der Story sind auch die nach wie vor, besser gesagt wohl für immer gegebenen Aktualitäten mit Kriegsbedrohungen, Träumen von Glück anderswo, Kinderschicksalen, von nicht zu erfüllenden Lebens- und Liebeshoffnungen. Allerdings, wenn es um solche geht …. bleiben wir lieber doch bei Giacomo Puccini.
Meinhard Rüdenauer
Foto: Johan Persson