Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

WIEN/ Odeon und Volkstheater/ImPulsTanz: Anne Teresa De Keersmaeker – Lecture-Performance „Vocabularium“ /„Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“

16.07.2024 | Ballett/Performance

WIEN/ ImPulsTanz: Anne Teresa De Keersmaeker

Einen einzigartigen Abend schenkte uns die ikonische belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker mit der Lecture-Performance „Vocabularium“. Ausschnitte aus dem 2023 entstandenen gleichnamigen Film, in dem die beiden großartigen TänzerInnen Cynthia Loemij und Boštjan Antončič (seit 1991 respektive 2005 Teil der Kompanie Rosas) mehr als 90 Auszüge aus über 60 in den vergangenen gut 40 Jahren entstandenen Arbeiten in Originalkostümen tanzen, kommentiert die Choreografin mit einem Fokus auf die verwendeten Kostüme, die sie im Original (mit teils deutlichen Gebrauchs- und Reparatur-Spuren) präsentierte. Sie flocht zudem diverse Anekdoten aus der Entstehungsgeschichte und Aufführungspraxis der Stücke und choreografische Intentionen mit von ihr getanzten gestischen Beispielen ein.

ker1
Anne Teresa De Keersmaeker/Rosas: „Vocabularium“ (Fase) © Rosas/Anne Teresa De Keersmaeker

Sie brechen fast unter der Last der zig Kostüme, die sie tragen müssen, die zwei langen Kleiderständer. Der Raum zwischen ihnen und vor der auf einem Podest errichteten Leinwand gehört der in schlichtes Schwarz gekleideten Meisterin. Zweieinhalb Stunden lang führt uns die inzwischen 64-Jährige durch ihr Werk, in dem sie von Anbeginn die Beziehungen zwischen Tanz und Musik untersucht. Wiederholt begeisterte sie das ImPulsTanz-Publikum, erst im letzten Jahr mit ihrer vierteiligen Arbeit „Fase“, die sie mit 22 (!) als erstes abendfüllendes Tanzstück zur minimalistischen Musik von Steve Reich choreografierte und mit der ihr der internationale Durchbruch gelang.

Rhythmische, melodische und harmonische Strukturen der Musik und inhaltliche Intentionen der jeweiligen Komponisten setzt sie im Ergebnis eingehender Analysen in Bewegung. Die verwendete Musik umspannt Jahrhunderte Musikgeschichte, von Alter Musik und Klassik über Wegbereiter der Moderne bis zu zeitgenössischen Kompositionen. Ihre von geometrischen und mathematischen Mustern durchsetzten Choreografien atmen formale (und soziale) Strenge. Die oft kontrapunktische Organisation der Körper in Raum und Zeit erzeugt im Zusammenspiel mit der zuweilen live gespielten Musik faszinierende, vordergründig kühle Choreografien mit letztlich großer emotionaler Wirkung.

ker2
Anne Teresa De Keersmaeker/Rosas: „Vocabularium“ © Rosas/Anne Teresa De Keersmaeker

1983 gründete De Keersmaeker während der Erarbeitung des Stückes „Rosas danst Rosas“ ihre Kompanie Rosas in Brüssel. In den 45 Jahren ihrer bisherigen Karriere tanzten in ihren Arbeiten mehr als 150 TänzerInnen, deren Namen ihr alle noch geläufig zu sein scheinen. Welche Beweggründe es für die Wahl der jeweiligen Kostüme gab, wer in welchem Stück mit welchen Kostümen tanzte, warum welche Farben und Schnitte gewählt wurden, wer sie schneiderte und wie sie die choreografischen Intentionen unterstützten, warum sie welche Musik einsetzte und welche sie besonders schätzt beschrieb sie in einem nicht nur für das Publikum herausfordernden zeitlichen und inhaltlichen Umfang. Nach so vielen kurzen tänzerischen Intermezzi aus dem Film vermochte die abschließende, vielleicht 20-minütige Sequenz aus Tanz auf der Leinwand und am Ende kurz auch von der Choreografin live zu eingespielter Klaviermusik zu berühren. Was für ein Erlebnis, von dieser Ausnahme-Künstlerin selbst durch ihr bisheriges, immer wieder Meilensteine des zeitgenössischen Tanzes markierendes Werk geführt zu werden!

Erst gut zwei Monate zuvor, am 11. Mai 2024, wurde Anne Teresa De Keersmaekers jüngste Arbeit in Brüssel uraufgeführt. In „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“, das sie gemeinsam mit dem marokkanischen Choreografen Radouan Mriziga nach der Musik „Die vier Jahreszeiten“ von Antonio Vivaldi entwickelte, begeben sich die beiden auf die Suche nach der Aktualität dieses „Evergreens“ der barocken Musik-Literatur. Und sie werden fündig.

Der Titel („Der Wettstreit zwischen Harmonie und Erfindung“), unter dem Vivaldi 1725 eine Sammlung von zwölf Konzerten veröffentlichte, darunter auch die Violinkonzerte über „Die vier Jahreszeiten“, wirkt wie eine Jahrhunderte alte Voraussage aktueller Krisen. Der als Feier der Reinheit, Kraft und Schönheit der Natur komponierten Musik steht heute eine durch menschliche Aktivitäten bedrohte und vielfach bereits stark geschädigte Schöpfung gegenüber. Ihre Betroffenheit trieb die beiden KünstlerInnen – jenseits allen aktivistischen Tatendranges, dem es um eine vornehmlich affektive Konfrontation auf der Ebene der Effekte geht – in die Untersuchung von Ursachen und Wirkungen dieser das Anthropozän charakterisierenden Katastrophe. Ohne Klage und Anklage.

ker3
Anne Teresa De Keersmaeker/Rosas: „Il Cimento …“ © Anne Van Aerschot

Die französische Violinistin Amandine Beyer, mit der Anne Teresa De Keersmaeker bereits mehrfach zusammen arbeitete, so beispielsweise in dem 2022 bei ImPulsTanz gezeigten Stück „Mystery Sonatas / For Rosa“, stellt mit ihrer Einspielung der „Vier Jahreszeiten“ (gemeinsam mit ihrem Ensemble „Gli Incogniti“) vieles des bislang hierzu Produzierten in den Schatten. Ihre Aufnahme von 2015 ist mit der Kraft, Dynamik, Sensibilität und Transparenz der Interpretation der Komposition von höchstem künstlerischem Niveau. Die ihr vorangegangene eingehende Analyse des Werkes und dessen Aufnahme bilden die Grundlage für diese Choreografie, die die Musik neben dem Tanz in auch optische und perkussive Reize übersetzt.

Es beginnt mit flackerndem Licht, das erst mit zunehmender Anzahl beteiligter Leuchtstofflampen an den Bühnenwänden als „Lichtorgel“, also als von der Musik gesteuerte Lichtelemente erkennbar wird. Im Verlaufe des Stückes steppen zwei Tänzer den Rhythmus des wohl bekanntesten Teiles der Komposition, die sehr bald im Kopf zu klingen beginnt. Sehr vergnüglich. Aber dabei bleibt es nicht.

ker4
Anne Teresa De Keersmaeker/Rosas: „Il Cimento …“ © Anne Van Aerschot

De Keersmaeker bricht den Fluss der Konzerte und damit den der natürlichen Jahreszeiten auf und stellt so eine aus den Fugen geratene Natur auf die Bühne. Die menschlichen Eingriffe in Flora und Fauna (Rodungen, Bejagungen) und deren Wirkungen auf sie (Hitze, Dürren, Kälte, Artensterben) zeigt sie in häufigen Wiederholungen von in variierende Kontexte gestellten Gesten und Sequenzen.

Der Tanz der vier Tänzer (Boštjan Antončič, Nassim Baddag, Lav Crnčević und José Paulo dos Santos, ausschließlich Männer, was als Verweis auf die patriarchalen Wurzeln der Klima-Katastrophe gelesen werden kann), ist wie der einer inhomogenen, und doch respektvollen, sich befruchtenden Gemeinschaft. Ihre Kostüme (Aouatif Boulaich) sportiv mit transparenten Tops, häufig gewechselt. Zum Ende tragen sie mit Vögeln bedruckte Oberteile. Durch den Klimawandel erzwungene Migration.

ker5
Anne Teresa De Keersmaeker/Rosas: „Il Cimento …“ © Anne Van Aerschot

Ihre Hingabe an den Tanz ist beeindruckend und berührend. Ihre tänzerischen Herkünfte leben die vier in den Soloparts, aus denen sie jedoch immer wieder ins Kollektiv zurückkehren. Auffällig dabei Nassim Baddag, der seinen Breakdance mit höchster Präzision und als organischen Bestandteil der viele Stile zitierenden Choreografie präsentiert. Urban, Afro, Arabisches, Sufi, Bräuche, Rituale und Tänze aus der Mittelmeer-Region, Zeitgenössisches, Barock, Klassik, Schlittschuhlaufen, Holzhacken, Säen, Ernten, Jagen mit dem Gewehr, Schwitzen und Frieren, Erschöpfung, Verzweiflung, Nachdenklichkeit, diverse Tiere, Hunde bellen, sie straucheln wie die gebrochenen Akkorde. Oder, weil sie betrunken sind. Und natürlich geometrische Muster, neben aller Konkretheit inkorporierte Abstraktion. Und sie befragen gleichzeitig, in dem Moment, jeden Einzelnen nach seinem Verhältnis zur Natur.

Sie analysieren die Musik rhythmisch, lassen ihren Rhythmus stampfen, melodisch, lassen ihre Melodien tanzen, harmonisch und organisieren die vier Tänzer entsprechend auf der Bühne. Sogar die Bewegungen der Musiker beim Spielen, so zum Beispiel die der Geigenbögen, werden zu Rotationen und Sprüngen der Tänzer. Oder sie lassen das Licht tanzen. Und De Keersmaeker setzt Kontrapunkte in die Übersetzung. Sie dekonstruiert die Musik, setzt sie neu zusammen, fügt Ebenen hinzu und schafft damit ein das Wesen der Komposition noch einmal erweiterndes, intensivierendes, in die heutige Zeit geholtes hochkomplexes Werk. Dessen individuelle, soziale, gesellschaftliche, politische und spirituelle Dimension ist beachtlich, seine künstlerische herausragend.

ker6
Anne Teresa De Keersmaeker/Rosas: „Il Cimento …“ © Anne Van Aerschot

Sie gehen die Acht, synchron. Unendlich könnte sein der Kreislauf der Dinge. Das am Ende in ihrem Auftrag entstandene, eingesprochene Gedicht von Asmaa Jama erzählt vom Niedergang der Welt und dem Versuch, sie zu retten, von der Verzweiflung und auch von der Hoffnung. Nach und nach verlöschen die flackernden Lampen. „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ ist eine bewegende, großartige Arbeit!

Anne Teresa De Keersmaeker mit „Vocabularium“ am 14.07. im Wiener Odeon und mit „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ am 15.07.2024 im Wiener Volkstheater im Rahmen von ImPulsTanz.

Rando Hannemann

 

Diese Seite drucken