WIEN/ Odeon: Tanz Company Gervasi mit „Indefinite White Horn“
„Alles, was du bist, aber keinesfalls sein willst.“ Diesem im Programmzettel zitierten Satz des Schweizer Psychiaters C. G. Jung tanzen die sechs für das hier uraufgeführte Stück „Indefinite White Horn“ gecasteten TänzerInnen entgegen. Die Monate harter Arbeit in Italien und Wien haben sich gelohnt. Sie präsentieren ein kluges Sujet und zeigen feinsten zeitgenössischen Tanz.
Nach kurzen Bewegungsstudien und Interaktionen reißen sie das weiße Klebeband, das den Bühnenboden umgrenzt, weg. Größtmögliche, auch künstlerische Freiheitsgrade. Nur ein diagonal geklebter Streifen verbleibt. Er endet im Zentrum. Die sechs TänzerInnen: Paula Dominici, Francesca Russo, Joe La Luzerne, Nicola Manzoni, Evi Symeonidou und Julia Lundberg. Letztere assistierte dem italienisch-österreichischen Urgestein des zeitgenössischen Tanzes Elio Gervasi bei der Choreografie dieser Arbeit, die sich inhaltlich an ein vor bereits gut zehn Jahren entstandenes Stück anlehnt und es doch wesentlich weiter entwickelt.
Tanz Company Gervasi: „Indefinite White Horn“ (c) Victoria Nazarova
Ein Tänzer steht vor uns und schaut uns an. Dann entfernen sie den in die Mitte weisenden weißen Strahl auf dem Boden und kleben ihn hinten quer. Er scheint aus den Geschichten in unseren Gesichtern gelesen zu haben: Den direkten Weg gibt es nicht. Auch für die sechs auf der Bühne nicht. Der Sound (nach vielen Jahren wieder einmal für die Tanz Company Gervasi: Albert Castello) knistert. Dumpfe Stimmen.
Zwei Frauen schwingen Oberkörper und Arme im Duett. Die anderen vier schauen vom Rand aus, zwischen den Säulen des neoklassizistischen Theaterbaus stehend, zu. Sie wechseln die Konstellationen häufig und flüssig. Verschieden viele agieren auf der Bühne, interagieren kurz oder erscheinen ausschließlich solistisch. Sie arbeiten im Raum und mit den Mit-PerformerInnen in perfektem Timing. Präzise ihre Bewegungen und Begegnungen.
Was es für jede einzelne der sechs einzigartigen TänzerInnen-Persönlichkeiten bedeutet, diese künstlerische Reise erlebt zu haben, kann man erahnen, wenn man sie auf der Bühne agieren sieht. Als eine Gruppe und als sechs Individuen mit sechs Geschichten, die sich aus ganz unterschiedlichen persönlichen und tänzerischen Prägungen heraus entwickel(te)n. Die Interaktion mit den KollegInnen ist ein gewichtiger Aspekt bei der Erforschung seiner eigenen Ur- und Ab-Gründe sowie seiner Stellung in der Gemeinschaft und seiner Bezüge zu dieser.
Tanz Company Gervasi: „Indefinite White Horn“ (c) Victoria Nazarova
Innere und interpersonelle Widerstände und Konflikte scheinen auf, dunkle Aspekte treten ins Licht und werden verdrängt oder integriert. Wir sehen indirekte Kommunikation per distanzierender Vehikel (auch als Verweis auf die digitalen und so genannten sozialen Medien), wechselseitige Beeinflussung, den Kampf von Grundsätzen und Glaubenssystemen, diverse, sehr unterschiedliche Überzeugungen von sich und vom anderen, die Nutzung von Hilfsmitteln zur Überwindung von Hindernissen.
Das Stück entwickelt Spannung, steigert seine Intensität (wesentlich getragen auch vom Sound) und führt durch eine Fülle von beteiligten, unbewussten und ent-deckten, unterdrückten und sich entwickelnden Persönlichkeits-Aspekten. Auch Empathie, Solidarität und Fürsorge zeigen sie. Des Mannes Kopf an Bauch und Herz der Frau. Männliches trifft weibliches Prinzip, Ratio auf Emotio, Wissen begegnet Weisheit. Ein anderer stellt sich und damit seine Welt häufig auf den Kopf, hinterfragt somit alles und prüft das Ergebnis ausgiebig. In Fetzen und Bruchstücken bricht Unbewusstes ein ins Jetzt und aus ihnen aus, um sehr bald wieder verschwunden zu sein.
Ihr Tanz, der auch kurze klassische Zitate enthält (um auf individuelle Ausbildungs-Hintergründe und kollektives Erbe hinzuweisen), ist ausgeprägt subjektiv. Das jedem Einzelnen eigene Bewegungsmaterial entsteht aus der Spannung zwischen gelebter, doch abstrahierter Emotion und objektivierender Distanzierung. Beides in Bezug auf sich selbst, den Anderen und die Gruppe als Ganzes. Sie treiben sich selbst und ihr Umfeld in einem Netz aus mannigfaltigen inneren und äußeren Beziehungen.
Tanz Company Gervasi: „Indefinite White Horn“ (c) Victoria Nazarova
Abrupt wechseln sie ihre Positionen, alternieren zwischen Opfer und Schöpfer. Sie erzählen von Manipulation, Macht, Unterwerfung, Orientierungslosigkeit, Angst, Wettbewerb, Gewalt, Kampf um räumliche und ideologische Ressourcen, Rücksichtslosigkeit, der Macht von infantilen Mustern, der Suche nach Halt gebenden Strukturen, gruppendynamischen Prozessen. Individuell und kollektiv gesetzte und ererbte Grenzen werden – zuweilen bewusst – wahrgenommen und überschritten.
Mit seinem immer wieder gezeigten maschinellen Tanz, mit dem er auch das Kreatürliche in anderen konterkariert, ragt der junge New Yorker Tänzer Joe La Luzerne stilistisch aus der exzellenten Kompanie noch einmal heraus. Paula Dominici zeigt ein Solo, in dem sie zwischen Grenzen, die innere psychische Instanzen setzen, und Freiheit pendelt. Großartig.
Fast hymnischer Sound führt in die Endphase. Das Schlussbild, mit dem die Zuschauenden entlassen werden: Paula Dominici verbindet ihre Stirn mit der vom Tanzpartner gereichten Latte mit dem Boden. Das Ratio, die Gedanken und sich selbst zu erden, sich zu verbinden und sich befruchten und inspirieren zu lassen vom Boden, der Erde, dem Ur-Grund von allem, all das liegt in diesem einfachen und doch so komplexen Bild.
Tanz Company Gervasi: „Indefinite White Horn“ (c) Victoria Nazarova
Der Weg zu sich selbst ist einer in ein unbekanntes Land. Der Pfad an sich, einmal betreten, entpuppt sich mit immer wieder überraschenden, herausfordernden oder beglückenden Etappen als das eigentliche Ereignis. Das Stück hat kein Ergebnis. „Indefinite White Horn“ ist die Beschreibung einer spirituellen Reise, auf die jede(r) Einzelne sich begeben wollte, die jede(n) der sechs auf ganz individuelle Weise durch Stadien seines/ihres persönlichen Reifeprozesses führt.
Ihrem Ziel, sich selbst zu transzendieren, kommen die sechs verschieden nah. Jeder geht seinen eigenen Weg. Genau das macht das Stück so lebendig, rückt es so nah an den Zuschauenden. Der/die, in wenigen Fällen, schwer atmend und spürbar beunruhigt, sich selbst nicht erkennen konnte oder anzuschauen vermochte im blank polierten Spiegel dieser hochklassigen Tanz-Kunst.
Tanz Company Gervasi mit „Indefinite White Horn“ am 16.10.2024 im Wiener Odeon.
Rando Hannemann