WIEN/ Odeon: Tanz Company Gervasi mit „7-X-7 in C molle“
In seiner neuesten, hier uraufgeführten Arbeit taucht der seit mehr als 35 Jahren in Wien lebende und schaffende italienische Choreograf und Tänzer Elio Gervasi erneut ein in die Welt des 2009 verstorbenen Pioniers des zeitgenössischen Tanzes Merce Cunningham. Es geht in dieser Arbeit nicht um ein Reenactment dessen so markanter Bewegungssprache. Die Erkundung des Raumes, die der Amerikaner revolutionierte, wird in „7-X-7 in C molle“ zu einer Studie zu individuellen und gemeinschaftlichen Handlungsoptionen.
Tanz Company Gervasi: „7-X-7 in C molle“ (c) Victoria Nazarova
Das Stück untersucht auf der großen Bühne des Wiener Odeon in dessen neoklassizistischem Ambiente, wie Raum erobert, verteilt und zugewiesen wird, brandaktuell so blutig manifestiert im Nahost-Konflikt, relevant in jeder Gesellschaft, Gemeinschaft, Gruppe und Familie, physisch territorial und zunehmend kosmisch, metaphysisch im Wettstreit der Ideen und Ideologien und psychisch im Neben- und Miteinander diverser Aspekte unserer Persönlichkeit.
Links hinten steht eine weiße Mauer, die sich später entpuppt als Puzzle aus sieben verschieden geformten Elementen, die, in wechselnden Konstellationen auf der Bühne verteilt, zum einzigen, aber wirkungsvollen Requisit avancieren (Licht & Bühne: Leo Kuraite). Ihre nur in einer, der anfangs gezeigten Variante perfekte Passform als ein Körper wird zum bildnerischen Ab- und Sinnbild für die Einzigartigkeit eines jeden der sieben TänzerInnen, für deren Wert für das Funktionieren einer Gemeinschaft und für ihre Suche nach ihrer Position in dieser.
Die Original-Kostüme, individuell einfarbige, hautenge Ganzkörper-Leotards, stammen von Hanna Hollman, ihre Neuanfertigung von Nicoletta Cabassi. Den elektronischen Sound steuerte der Kontrabassist und Sounddesigner Alessandro Vicard bei. Es knistert, pocht, knarzt, kratz, knirscht, kracht, rauscht, tropft und pfeift. Es gibt keine rhythmischen Strukturen, die der Tanz aufgreifen könnte. Es gibt, vordergründig betrachtet, nur die Parallelität der zwei unabhängigen Akteure Sound und Tanz.
Tanz Company Gervasi: „7-X-7 in C molle“ (c) Victoria Nazarova
Die Bildsprache der akustischen Ereignisse jedoch ist kräftig und von elementarer Bedeutung für das Stück. Vicard stellt die sieben TänzerInnen in eine Umwelt mannigfaltiger Einflussfaktoren. Nicht verarbeitbare Mengen von Reizen, Informationen und Daten formen den Raum auf einer mehrdimensionalen, die Lebenswirklichkeit des modernen Menschen zeichnenden Ebene: Das Bombardement aus sozialen Medien und den Newsrooms der Meinungsmacher, die exponentiell zunehmende Komplexität und die Dynamik des Wandels der Welt inklusive einer stetig rasanteren technologischen Entwicklung und sogar Pflanzen- und (Haus-) Tier-Geräusche prasseln auf die sieben PerformerInnen ein.
Diese bewegen sich in und verhalten sich zu den sie umgebenden und ihren inneren (Um-) Welten. In ständig wechselnden Konstellationen, zwischen ihren KollegInnen und den weißen Bausteinen, erschaffen jeder Einzelne für sich und alle gemeinsam eine lange Folge von immer wieder neuen Beziehungen mit solistischen, Gruppen- bis zu Ensemble-Sequenzen, in ständiger Aufmerksamkeit, mit Respekt und Empathie.
Tanz Company Gervasi: „7-X-7 in C molle“ (c) Victoria Nazarova
Den Tanz dominieren gestreckte Beine und Arme, letztere im Stand zu seitlichen Körper-Rundungen geformt. Die Gestik ist geometrisch, von hohem Abstraktionsgrad und doch nicht kalt. Ihr Tanz entwickelt einen Sog, getragen von einer an Cunningham erinnernden Bewegungssprache, die zuweilen in ihre formale Strenge auch klassische und zeitgenössische Elemente integriert.
Vor allem aber faszinieren die die sieben TänzerInnen Paula Dominici, Joe La Luzerne, Laura Finocchiaro, Julia Lundberg, Marco Antonio Hernández Rojas, Darja Turchenko und Talitha Maslin aus Österreich, den USA, Italien, Schweden, Spanien, Lettland und Australien mit ihrer technischen Perfektion, ihrer Präzision, ihrem Timing und ihrer Strahlkraft. Gemeinsam bilden sie ein homogenes Ensemble aus herausragenden Einzelkönnern.
Sie lernen im Verlaufe des Stückes, auf der Basis wachsender Selbsterkenntnis und -akzeptanz ein zunehmend gefestigtes Miteinander zu gestalten (Dramaturgie: Karl Baratta). Die durch mehrere Blackouts anfangs noch verschreckte Gemeinschaft wächst zu einer ihrer Kraft und Anpassungsfähigkeit selbstgewisse Gruppe. Die wiederholten massiven Erschütterungen durch äußere Einflüsse verstören immer weniger. Sie sind bei sich und beieinander.
Tanz Company Gervasi: „7-X-7 in C molle“ (c) Victoria Nazarova
Gegen Ende spielt uns die Musik etwas wie herab sausende Fluggeräte. Es klingt wie moderner Kriegslärm. Die Fragilität von gesellschaftlichen, staatlichen und ökologischen Gefügen, im Hinblick auf die aktuellen politischen Tendenzen in Europa auch die Bedrohung der Demokratie als solcher, begleiten als akustische Intervention den Tanz.
Die ungeheure gesellschaftspolitische Dimension von „7-X-7 in C molle“ durchdringt die reine Freude am Tanz. Die Subtilität der (Be-) Deutungsebenen neben der Stringenz der Bewegungssprache ist eine weitere Stärke dieser Arbeit. Demokratie heißt der Raum, in dem die sieben Individuen ihre Freiheiten und die Grenzen dieser sondieren und erfahren. Die Mauer, nun vorn rechts aus den sieben Bausteinen neu zusammengesetzt, zeichnet mit ihrem imperfekten Finish die Utopie einer neu strukturierten, toxischer Normierungen abholden Gesellschaft, die sich auf der Basis von Toleranz, Wertschätzung und Wachsamkeit den gigantischen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft stellen kann. Die sieben anonymisieren sich und machen somit uns alle zu Akteuren in ihrem Sinne.
Tanz Company Gervasi: „7-X-7 in C molle“ (c) Victoria Nazarova
Elio Gervasi zeigt mit dieser Arbeit ein weiteres Mal, dass er zu den bedeutendsten Choreografen Österreichs gehört. Seine Kompanie, mit teils langjährigen, teils dienstjüngeren TänzerInnen und auch altersstrukturell diversifiziert, spielt in der Champions League der zeitgenössischen Tanzkompanien Mitteleuropas. „7-X-7 in C molle“, eine technisch und inhaltlich hoch komplexe und anspruchsvolle Choreografie mit geradezu hypnotischer Ästhetik wurde begeistert gefeiert.
Tanz Company Gervasi mit „7-X-7 in C molle“ am 10.10.2025 im Odeon Wien.
Rando Hannemann