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WIEN/ Odeon: ImPulsTanz: Trajal Harrell / Cecilia Bengolea / François Chaignaud / Marlene Monteiro Freitas mit „(M)imosa“

24.07.2024 | Ballett/Performance

WIEN/ Odeon: ImPulsTanz: Trajal Harrell / Cecilia Bengolea / François Chaignaud / Marlene Monteiro Freitas mit „(M)imosa“

Diese vier Größen der zeitgenössischen Tanz- und Performance-Kunst fanden sich bereits 2011 bei ImPulsTanz zusammen, um ihr nun im Rahmen der Classic-Reihe wiederaufgeführtes Stück zu zeigen. Zweieinhalb Stunden lang wandeln sie lustvoll auf den Pfaden, die eine Reihe namhafter Wegbereiter der Postmoderne Anfang der 60er in der New Yorker Judson Memorial Church erstmals beschritten. Und sie werden am Ende mit Standing Ovations bejubelt.

Als Teil seiner Serie „Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church“ stellt Initiator Trajal Harrell mit „(M)imosa“ einen Raum zur Verfügung, in dem diese vier so unterschiedlichen Künstler-Persönlichkeiten ausgiebig ihre Einzigartigkeit feiern können. Neben- und miteinander. Jede(r) erhält genügend Gelegenheiten zur Präsentation seiner und ihrer individuellen Formensprache und handwerklichen Meisterschaft. Aber auch von sehr persönlichen Geschichten. Und das alles unter der Überschrift: „Wer ist die beste Mimosa?“ Mit diesem ironischen Motto weisen sie auf eine Reihe von Schlägen hin, die das Leben jedem/jeder von ihnen, ohne sparsam damit umzugehen, austeilte. Und wie gingen und gehen sie damit um?

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Harrell, Bengolea, Chaignaud, Freitas: „(M)imosa“, im Bild: Marlene Monteiro Freitas © yakoone

Marlene Monteiro Freitas, 1979 auf den Kapverden geboren, ist Choreografin und Tänzerin. Ausgebildet unter anderem am P.A.R.T.S. in Brüssel, arbeitete sie bereits mit vielen internationalen Künstlern verschiedener Genres zusammen und wurde mehrfach ausgezeichnet, so 2018 mit dem Silbernen Löwen der Biennale von Venedig. Und sie co-kuratiert seit 2020 das Projekt „(un) common ground“, das sich künstlerisch-kulturell mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt auseinandersetzt.

Zwischen hysterischer Exaltiertheit, Protest, Provokation, Lockerheit, Unsicherheit und aufgesetztem Frohsinn schaltet sie hin und her. Ein chaotisches Klanggemisch aus Jazz, Songs, perkussiven Parts und kreischendem Sound, alles rhythmisch konfus, begleitet sie, während sie innere Wirrungen tanzt, hüpft und läuft. Sehr dynamisch, mit weit überzogener Mimik und Gestik. Und mit freiem Oberkörper. Sie stellt den Identitätsbegriff im Allgemeinen und ihr eigenes geschlechtliches Subjekt in Frage. Und sie stellt sich vor als „Mimosa“. So wie jeder der Anderen dann auch.

Später wird sie Mitmach-Theater mit uns spielen, mit Perücke und Kleidung in pink. „Purple“ haben wir an passender Stelle zu rufen. Lustig. Eine Pianisten-Persiflage, ihre Hände scheinen aus ihrern nackten Brüsten gewachsen zu sein, wird zum bissigen Kommentar klassischen Erbes. Das Highlight kommt zum Schluss. Ihr letzter Part Prince, den sie äußerlich, gestisch, tänzerisch und mit dessen selbstherrlich zur Schau gestellter Männlichkeit frappierend gut kopiert, begeistert das Publikum.

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Harrell, Bengolea, Chaignaud, Freitas: „(M)imosa“, im Bild: François Chaignaud, Trajal Harrell © yakoone

François Chaignaud, geboren 1983 in Rennes, begann mit sechs zu tanzen, absolvierte das Conservatoire National Supérieur de Danse de Paris und ist Tänzer. Sänger, Choreograf, Autor und Filmmacher. Sein Interesse für Geschichte und seine zahlreichen Kollaborationen mit verschiedensten KünstlerInnen diverser Genres führten ihn durch die Welt und inhaltlich in unzählige Themen. Sein Markenzeichen allerdings ist seine Leidenschaft für Travestie.

Hier in „(M)imosa“ brilliert er als Sänger, seine Falsett-Stimme, mit der er auch seine Geschichte erzählt, erlaubt ihm sogar das Singen von Koloraturen der klassischen Opernliteratur. Er pendelt zwischen Kopf- und Bruststimme, singt klassisch, Chancon, Pop. Großartig! Sein Tanz, das klassische Bewegungsmaterial exzessiv, expressiv und fast nackt (auch mit angeklebten Brüsten) auf die Bühne gehämmert, durchbricht jegliche Sehgewohnheiten. Im Pelz, mit langem Kleid und auf Super-High Heels ist er eine unverwechselbare, unvergleichliche und ungemein präsente Diva. Deren Attitüde er, Kaugummi kauend, gleichzeitig ins Profane rückt.

Cecilia Bengolea, geboren 1979 in Buenos Aires, ist Tänzerin, Choreografin und multidisziplinäre Künstlerin. Ihre Zusammenarbeit mit François Chaignaud und anderen internationalen Künstlern sowie ihre in vielen Museen, Theatern und auf Festivals der ganzen Welt gezeigten eigenen Arbeiten brachten ihr mehrere Auszeichnungen ein. Die Dualität von Objekt und Subjekt, exzessiv von Freitas und Chaignaud gelebt, ist, weniger aufdringlich, so doch auch Bengolea’s Werkzeug für emotionalen Austausch.

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Harrell, Bengolea, Chaignaud, Freitas: „(M)imosa“, im Bild: Cecilia Bengolea © yakoone

Sie tanzt in hautengem und -farbenem Ganzkörper-Suite mit Spitzenschuhen klassisch, Club-Dance, den Moon-Walk und Urban. Ihr Höhepunkt ist eine Kate-Bush-Parodie. Mit rotem Kleid und offenem Haar singt sie live deren Welterfolg „Wuthering Heights“ von ihrer Debut-Single aus 1978. Bush’s Tanz-, gestische und Gesangs-Stilistik, verewigt im zugehörigen Musik-Video, kopiert/persifliert Bengolea zum Brüllen komisch.

Trajal Harrell, geboren 1973 in Douglas, Georgia (USA), ist Tänzer und Choreograf. Er studierte an der Trisha Brown School, dem Centre National de la Dansearis, dem City College of San Francisco sowie der Martha Graham School of Contemporary Dance. Von 2019 bis 2024 war er am Schauspielhaus Zürich Regisseur und Leiter dessen Tanzkompanie. Auf der Biennale di Danza in Venedig erhielt er in diesem Jahr den Silbernen Löwen.

In seinen Arbeiten verbindet er Voguing, postmodernen und zeitgenössischen Tanz und Butoh miteinander zu fragilen (und zuweilen humorvollen) Geschichten von Menschen unterschiedlichster territorialer und kultureller Herkünfte. Der liebevolle Blick, mit dem er seine Charaktere, die oft vom Rande der Gesellschaft kommen, zeichnet, berührt immer wieder.

Hier in „(M)imosa“ tanzt Harrell zu R&B, zitiert Clubdance, Disco und Voguing und macht uns den Gangster. Er singt, kopiert die Attitüde des Gecoverten. Er klagt am Beispiel der Fake-Taschen jegliche Fälschung, ob von Dingen, Tatsachen oder menschlichem Ausdruck, an und disqualifiziert damit metaphorisch jeglichen Zierrat, physischen, mentalen und psychischen. Er plädiert damit für Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, als Mensch und als Künstler. Die lange Folge der oft mit Zwischenapplaus belohnten Beiträge beschließt Harrell mit einem gefühlvoll gesungenen Song.

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Harrell, Bengolea, Chaignaud, Freitas: „(M)imosa“, im Bild: Trajal Harrell © yakoone

Bei einer mit fluoreszierenden Kostümdetails von allen getanzten Schwarzlicht-Party muss man standhaft, also sitzen bleiben. Mitreißend. Bei allem Vergnügen, das sie uns bereiten, geht das Stück weit über Amüsement hinaus. Es gibt keinen roten Faden, aber es gibt Verbindendes. Jenes Mimosenhafte, das sich schützende Verschließen bei geringer Berührung, haben die vier verwandelt. Jeder hat seine eigene Geschichte. Die vier offenbaren verschieden viel davon.

Harrell erzählt, dass sein Vater Alkoholiker war, seine Mutter alles in sich hineinfraß, er nach einer anderen Jugend suchte und dass er die Augen seines Vaters habe. Das, was er schon früh entwickelte, eine große Sensibilität, Empathie und ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, lebt er heute auf der Bühne. Freitas wurde mit zehn von ihrem Vater verlassen. Das war nicht fair. Ihre Schuldgefühle und ihre Wut transformiert sie in wilden Protest und energiegeladene Extraversion. Chaignaud hatte als Teen seine erste Transvestiten-Performance. Ein Flop. Er lehnt alles ab und stellt es damit in Frage. Auch sich selbst? Mit Glamour deckt er seine Zerbrechlichkeit zu, mit wahrer Sanges- und Tanzes-Kunst seine Angst, nicht zu genügen. Und Bengolea wollte nie mehr performen, nachdem sie mal ihr Kleid nicht fand. Mehr erfährt man nicht von ihr.

Ein kurzer, aber tiefer Blick in verwundete Seelen. Ihre erlittenen Verletzungen verhärteten sie nicht. Im Gegenteil. Aus der sich bewahrten Fragilität und Vulnerabilität generieren sie ungeheure Kraft und Stärke. Alle zeigen sich als große Künstler mit komödiantischen Talenten, starker Bühnenpräsenz und als ausgeprägte Persönlichkeiten mit sehr individuellen (Künstler-) Biografien.

Wir alle haben unsere Geschichten, die wir mit uns durch unser Leben tragen, und haben unsere ganz eigenen Strategien für einen Umgang damit entwickelt. Verdrängung oder Bewusstmachung, Ablehnung oder Integration, Vergessen oder Heilung. Diese vier haben ihre Kunst zu einem wesentlichen Mittel der Be- und Verarbeitung ihrer individuellen Traumata gemacht. Ihr So-Sein lässt gleichzeitig zu, ihre Oberflächen zu durchdringen und macht sie zu Menschen.

Die Koexistenz dieser vier auf der Bühne ist beispielhaft. Demokratie ist nicht nur ein politisches System. Demokratie ist eine Lebenseinstellung. Diese Feststellung Hannah Ahrendt’s beschreibt bestens den Geist dieser Performance und der PerformerInnen. Zugleich zeigt sie, wie weit wir noch entfernt sind von jener Selbstverständlichkeit, mit der diese vier großartigen KünstlerInnen ihre Grundhaltung ausleben. Utopie als künstlerische Realität.

 

Trajal Harrell, Cecilia Bengolea, François Chaignaud und Marlene Monteiro Freitas mit „(M)imosa“ am 22.07.2024 im Wiener Odeon im Rahmen von ImPulsTanz.

Rando Hannemann

 

 

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