Thomas Weinhappel/Alexandra Goloubitskaia/Ursula Wies
Benefizkonzert für den Konzertsaal der Wiener Sängerknaben („MuTh“)
- November 2023
Dass in Wien ein Konzertsaal gefährdet ist, mag sintflutlich anmuten, kann aber kaum mehr verwundern, wenn man sich ansieht, wie ausgedünnt inzwischen etwa die Spielpläne der großen Opernhäuser in Berlin, Mailand oder New York sind; dass ebendort bis vor zehn Jahren ein zweites existierte, ahnt man hinter all dem Rost, den die Coronakrise auf die Zeit vor ihr schichtete, kaum mehr. Thomas Weinhappel, dem diese Krise immerhin das Glück bescherte, zum Heldenbariton zu reifen oder vielmehr: einen Fachwechsel einzuleiten wie andere eine Geburt – also etwas Fälliges –, sang zum Benefiz des Konzertsaals der Wiener Sängerknaben („MuTh“) eine Auswahl, ja einen Gutteil der längeren Bariton-Passagen in Wagners Werk und präsentierte sich dabei glänzend in Form. Ursula Wies moderierte mit Heiterem wie Rührendem und ließ in Auftritt wie Sprechkultur die Grandezza ehrwürdigen Vortragsstils anklingen.
Musikalisch eröffnete die Arie des Fliegenden Holländers („Die Frist ist um“), der in Weinhappels Vokalbild weniger düster entrückter Schmerzensmann als von nahbarer Verzweiflung gebeutelt ist, weniger unter der ,Ewigkeit in seinen Eingeweiden‘ als der Angst davor leidet, was dem gewohnten Rollenbild ein frisches Mensch-Sein abtrotzt. Dabei setzte Weinhappel aber auch subtile Akzente, etwa beim letzten „in Nichts vergeh’n” (vor dem finalen Ausbruch), dessen Mischung aus Fahlheit und Qual man sich kaum schöner wünschen könnte.
Alexandra Goloubitskaia ließ am großen Bösendorfer-Flügel keinen Zweifel daran, dass sie Wagners symphonisch-motivisches Geflecht aufs Hellste und mit reichlich Sinn für Klang durchdrungen hat, der üppige Wellenbewegungen ebenso wie faszinierende Hell-Dunkel-Kontraste und abrupte Schroffheiten einschließt. Sie war ein manchmal fast zu prominenter Partner und könnte Weinhappel wohl etwas mehr die Hoheit über das Timing lassen. Ihre Fähigkeiten aber, etwa symphonische Entwicklungen in kleinere, jeweils in Tempo und Lautstärke anschwellende Bögen zu gliedern, entfalteten sich dann bezwingend in Liszts „Liebestod”-Transkription.
Es folgten die Solos des Friedrich von Telramund (Lohengrin). In der Ansprache „Dank, König, dir, dass du zu richten kamst” führte Weinhappel einen gewichtigen Helden ein, der vielleicht noch überzeugender wäre, wenn er manches, besonders die deklamatorischen Phrasen, schlanker hielte: Immerhin tritt hier ein Mann auf, der sich seiner Sache ziemlich sicher fühlt, allerdings vor dem König spricht, wo Anstand und Sitte zu wahren sind. Diese Robustheit konterkarierte der zweite Abschnitt vom Beginn des zweiten Aktes („Du fürchterliches Weib…Durch dich musst’ ich verlieren”) dann durch etwas gefühlige Zeichnung: Wenn Telramund so maskulin ist, wie ihn Weinhappel im ersten Stück vorstellte, dann sollte auch mehr klassisches Pathos in seiner Verzweiflung über die verlorene Ehre liegen. Ziel kann hier nur sein, dass man dem Charakter glaube, nicht aber, dass man zu ihm halte.
Nach der Pause ging es zeitlich einen Schritt zurück, zu Wolfram von Eschenbachs viktorianischer Sublimations-Romanze „O du, mein holder Abendstern“ samt einleitendem Rezitativ aus Tannhäuser: Sehr stimmig, mit nobler Trauer trug Weinhappel das vor, und es war ein Labsal, diesen Gesang mit Aplomb zu hören, nicht mit einer schwachbrüstigen Vergeistigung, die Wolframs Werben um Elisabeth angesichts Tannhäusers a priori vergeben und den Konkurrenten mehr aus einem Kranz von Liedern als aus Fleisch und Blut gemacht erscheinen lässt.
Dann tauchten die Künstler in Wagners Ring ein, doch bevor es dem Chefgott galt, schmetterte Weinhappel noch Donners Gewitterbeschwörung „Schwüles Gedünst…He da!“ wie ein Bravourstück, als ertüchtige sich Donner in einer Art ewigem Fitnessstudio, ein Testosteron-Halo um den Scheitel: Das war packend, doch hier erforderte die Situation im einleitenden Rezitativ etwas gedrücktere Stimmung – auch ein Gott, jedenfalls ein so vermenschlichter, muss manchmal erst warmlaufen.
Auch wenn es dramatisch anfechtbar wäre: schade, dass Weinhappel nun nicht fliegenden Wechsel machte, dann hätte Goloubitskaia eine gewiss süffige Regenbogenbrücke spannen und der Sänger als Wotan übernehmen können; denn nun kam der Gruß an die Burg („Abendlich strahlt der Sonne Auge“), der untermauerte, wie gut Weinhappel die ausgefüllte Triumphgeste, das noch sympathische Kraftgebaren beherrscht. Nur zwei kleinere Wünsche blieben hier offen: mehr Abschattierung im Mittelteil („Von Morgen bis Abend“), wo Wotan die sinistren Geschehnisse des Tages erinnert, die ihn auch auf errungenem Hochsitz nicht loslassen werden; und weichere Tongebung, wenn der Gott seiner Ehefrau, sie dorthin einladend, die Hand reicht („Folge mir, Frau“). Darin darf Gebieterisches stecken, freilich, aber es muss weich und nobel sein, wenn es auch falsch sei: Hier ist gute Miene zum bösen Spiel zu machen; und „Walhall“ – „Was, mächtig der Furcht, mein Mut mir erfand“, wie Wotan den Namen ausdeutet: Diesen Namen muss er umhegen und umkosen, wie er das noch inniger nur mit seinen Herzenskindern, den Wälsungen und vor allem Brünnhilde tut.
Dass Weinhappel hierfür der Richtige ist, bewies einmal mehr sein „Leb’ wohl, du kühnes, herrliches Kind“ zum Schluss. Hier stimmt schier alles: die umarmende Großmut des Beginns, die vorausblickende Melancholie („Muss ich dich meiden“), die fast geharnischte Vision des Feuers („ein bräutliches Feuer soll dir nun brennen“), bevor es ihn wieder mit hintergründigem, doch nun überlegen bemeistertem, zur „Weltentat“ überhöhtem Schmerz an den Verlust gemahnt, der daran hängt, dass er sich einmal mehr durchsetzt („Denn einer nur freie die Braut“), der berückend liedhafte Innenteil („Der Augen leuchtendes Paar“), die Ruhe im Zauberspruch einschläfernder Menschwerdung („so küsst er die Gottheit von dir“) und dann die Kommandierung Loges („Loge, hör’!“) mit fleischig auftrumpfender, aber kontrollierter Schlussphrase: Auch für das letzte „nie!“ blieben ihm genug Luft und Artikulation. Selbst danach, bei der Zugabe, ereignete sich noch Denkwürdiges: Schuberts „An die Musik“ sang Weinhappel wirklich an die Musik, sorgfältig abgesetzt, mit der leisen Magie liebevoller Kommunikation, eben als eine direkte Anrede, deren schließendes „ich danke dir“ man wohl selten so persönlich gehört hat. Möge es dem „MuTh“ vergönnt sein, den Dank seines Publikums mit weiterem Dankenswerten zu erwidern.
Gregor Schima