- und 10. November 2019, Musikverein
Wiener Symphoniker
Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Lorenzo Viotti, Dirigent
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Arnold Schönberg: Verklärte Nacht, op. 4; Fassung für Streichorchester
Giuseppe Verdi: Quattro pezzi sacri
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Nicht alles im Konzertprogramm muss aufeinander abgestimmt sein, und oft ist es bekanntlich auch nicht der Fall. Ein adäquater Leitfaden durch das gesamte Programm kann manchmal aber neue hermeneutische Perspektiven auf Werke öffnen, die sich in einer atomistischen Auslegung nicht aufgetan hätten. Das auf dem ersten Blick nicht offenkundige Verhältnis des von Richard Dehmel inspirierten Streichsextetts Arnold Schönbergs zum letzten großen religiösen Werk des Agnostikers Guiseppe Verdi ist laut Lorenzo Viotti auch das Motto des Abends: Beide Werke sind durchdrungen vom Anspruch einer unendlichen Liebe, die buchstäblich alles umfasst – von einer verzweifelten Frau am nächtlichen Spaziergang bei Schönberg bis hin zur unerlösten „Menschheit, die Angst vor der Hölle“ hat.
Foto: Kohki Totsuka (10. November 2019)
Die ursprünglich als Streichsextett verfasste und später für Streichorchester erweiterte Verklärte Nacht op. 4 von Arnold Schönberg baut als Programmmusik auf dem gleichnamigen Gedicht Richard Dehmels auf und illustriert in noch spätromantischer Diktion die intimsten Gefühlsregungen der fünf Gedichtsabschnitte, welche von den Streichern der Wiener Symphoniker im ersten Teil des Konzerts so feinfühlig und ekstatisch nachvollzogen werden. Im Anschluss an die stimmungsvolle Lesung des Gedichts durch den Cellisten Peter Siakala taucht das Orchester mit dem düsteren d-moll unmittelbar in jene Atmosphäre der Unsicherheit und des mystischen Mondlichts ein, aus der Viotti im zweiten Abschnitt eine unglaublich agile, spannungsdurchzogene Dramatik entwickelt und die schließlich in den erlösenden D-Dur Akkord des vierten Abschnitts – und damit auch den eigentlichen musikalischen Höhepunkt des ganzen Abends – mündet. Auf die aufwühlende und doch zugleich mit klarem Geist kontrollierte gestische Verausgabung des jungen Maestro erwidert das Orchester mit einer ebenso dramatischen Hingabe und individuellem Spielgeist, dabei hervorzuheben die exzellenten Soli der Stimmführer, das ergreifende Tremolo der tiefen Streicher, das eiskalt ins Herz der verzweifelten Frau sticht, sowie die hochromantische Cellopassage im vierten Teil, die die großzügige Liebe des Mannes verkörpert.
Lorenzo Viotti gelingt hier eine berührende Aktualisierung der Erfahrung der Generosität, die Dehmels Lyrik zugrunde liegt. Freilich ist heute das Gedicht selbst nur aus dem Ethos der damaligen Zeit begreiflich, und doch transzendiert die Darbietung der Wiener Symphoniker alle sprachvermittelten Konventionen und macht Schönbergs Tonsprache als klangliche Entäußerung der zeit- und grenzenlosen Liebe für das heutige Publikum unmittelbar zugänglich. Dies gelingt ihm nicht nur durch seine wohlbekannte dirigentisch-technische Perfektion, die ihm eine transparent-mehrdimensionalen Stimmführung und eine minutiöse Kontrolle über jedes klangliche Detail und Agogik erlaubt, sondern nicht zuletzt mit seinem unbedingten musikalischen Charisma (wie kann man es denn letztlich sonst nennen?), das seinesgleichen sucht. So bleibt am Ende der spätromantischen Expressivität ein versöhnlicher Ausblick auf eine zutiefst intime Erlösung und ein Moment einer der Zeitlichkeit enthobenen, absoluten Verklärung.
Foto: Kohki Totsuka (8. November 2019)
Nach dieser wahrhaften Sternstunde steht im zweiten Teil das groß besetzte Quattro pezzi sacri für Chor und Orchester auf dem Programm – das letzte große Werk Giuseppe Verdis, das vier unterschiedliche sakrale Kompositionen vereint und mit seinen beiden A-cappella-Stücken zugleich eines der anspruchsvollsten Werke der Chorliteratur darstellt. Mit einem klangschönen Pianissimo des Wiener Singvereins – in dem Viotti zu seiner Studienzeit in Wien selbst Mitglied war – beginnt die enigmatische Tonleiter (c-des-e-fis-gis-ais-h-c; absteigend f statt fis) des Ave Maria (Nr. 1), auf deren viermaliger Wiederholung Verdi mit diversen deutungsoffenen Harmonien improvisiert. Lorenzo Viotti atmet mit dem Chor überaus organisch mit und verleiht den teilweise scheinbar zusammenhanglosen Akkorden eine dramaturgische Richtung. Überhaupt ist bei den beiden A-cappella-Stücken – hier und Laudi alla Vergine Maria für Frauenchor (Nr. 3) – unüberhörbar, wie intensiv an den feinen Details gearbeitet worden ist: etwa die genussvoll ausgekosteten Reibungen der Vorhalte, mehrdimensionale Architektonik der Dynamik, komplett durchdachte Phrasierungsbögen sowie nicht zuletzt die bewusst transparente Stimmführung, die dem unter der Oberfläche teilweise zutiefst polyphonen Charakter des Werkes Rechnung trägt. Der unter Viotti aufblühende Wiener Singverein, für dessen phänomenale Einstudierung und kontinuierliche Verbesserung innerhalb der Konzertserie sich der Chorleiter Johannes Prinz verantwortlich zeichnet, vollbringt außerdem eine besonders hervorzuhebende intonatorische Glanzleitung: Die beiden A-cappella-Stücke werden so sauber intoniert, dass sie beide exakt in der Tonart enden, in der sie begonnen haben – eine beeindruckende Leistung, die selbst professionellen Konzertchören manchmal versagt bleibt.
In Stabat Mater (Nr. 2) und Te Deum (Nr. 4) entfaltet das Zusammenspiel von Chor und Orchester hingegen eine opernhafte Dynamik. Die beinahe an Schönbergs Spätromantik erinnernde Tristesse der Streicher und Holzbläser wechseln mit einem liebevollen Dolcissimo der Unisono-Altistinnen („Tui nati vulnerati …“) ab, die majestätischen Fanfaren der klanggesättigten Blechbläser mit der mystischen Gregorianik des A-cappella-Herrenchores („Te deum laudamus …“) und schließlich die dramatische Doppelchorfuge mit unheimlichen Sanctus-Rufen im zarten Ges-Dur. Unter Viottis verausgabender und zugleich jederzeit klarer Zeichengebung ist auch in einer größeren Besetzung jedes artikulatorische Detail abgestimmt, die Klangfarben ausdifferenziert, die vier kurzen Teile von einer intensiven musikalischen Spannung durchzogen. Wenn das in Düsterkeit fast zugrunde gehende Vertrauen auf die Milde und Barmherzigkeit („miserere …“) schließlich in den freudigen Ausbruch der Hoffnung („In te speravi …“) überführt wird, tut letztlich auch eine komplett indisponierte, intonatorisch wie technisch unsichere Sopransolistin aus dem Chor dem ergreifenden Erlösungsmoment nicht im Geringsten Abbruch.
Der Agnostiker Verdi lässt das Werk in pianissimo mit einem Plagalschluss und alleinstehenden E der tiefen Streicher abklingen, wozu sich nicht unschwer ein skeptisch fragendes e-moll dazudenken ließe. Nicht für Lorenzo Viotti, für den die Liebe die zentrale Botschaft jeder Religion sein will: Der ungetrübte Schlusston reminisziert mit seinem versöhnlichen Wohlklang den momenthaften Ausblick auf das Paradies am Ende des Stabat Mater, bei dem man gleichsam mit einem barmherzigen Lächeln von der überströmenden Liebe Gottes umarmt wird.
PS: Musikalisch scheint es doch eigentlich evident, wer die Wiener Symphoniker nach 2021 als Chefdirigent hätte leiten sollen…
Mag. Kohki Totsuka