Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

WIEN /Musikverein:  Dieter SCHNEBEL: SINFONIE X  (ÖEA im Rahmen von Wien Modern)

Ein Weltenstück und Opus Magnum

17.11.2019 | Konzert/Liederabende

Bildergebnis für dieter schnebel naujoks"
Dieter Schnebel. Copyright: Carolin Naujocks

WIEN /Musikverein:  Dieter SCHNEBEL: SINFONIE X  (ÖEA im Rahmen von Wien Modern)

Ein Weltenstück und Opus Magnum

16.11. 2019 (Karl Masek)

Das ORF Radio-Symphonieorchester ist für Wien Modern längst eine unverzichtbare Konstante. Auch im Jubiläumsjahr (der Klangkörper wurde 1969 gegründet) widmet man sich mit großem Engagement zeitgenössischer Avantgarde und versucht alljährlich im Claudio Abbado Konzert,  dessen visionären Musikbegriff immer wieder weiter zu entwickeln, ohne ein „Traditions(ge)denken“, vielmehr durch ein „Weitertragen des Feuers“ und nicht eine „Anbetung der Asche“.

Für den deutschen Komponisten, Philosophen, Musikwissenschaftler, Theologen, evangelischen Pfarrer, Lehrer, Universitätsprofessor für Experimentelle Musik in Berlin,…, Dieter Schnebel (1930 – 2018) bedeutete der Titel seines Opus Magnum für großes Orchester, Altstimme, Live-Elektronik und Tonband  (1987 – 1992/2004)  seine Xte Symphonie, mithin eine Symphonie über ein X, also eine Variable wie in der Mathematik. Aber auch  „10. Symphonie“, die Beethoven, Bruckner und Mahler versucht bzw. sogar begonnen haben, deren Nichterreichen den abergläubischen Arnold Schönberg zutiefst verstörte.

Schnebel revolutionierte die Kompositionstechnik, wendete sich nach streng seriellen Stücken  (und nach Kennenlernen von John Cage) bald  von der Dogmatik der „Darmstädter“ Boulez und Stockhausen ab und erarbeitete Konzepte für das experimentelle Komponieren, setzte sich dabei als Theologe auch intensiv mit spirituellen Themen auseinander. Im Mittelpunkt seines Schaffens standen immer Freiräume. Und der Drang, dabei musikalisch „eine Welt aufzubauen“. In dieser Hinsicht war wohl Gustav Mahler eines seiner großen Vorbilder. Schnebels Sinfonie X  dauert gut zweieinhalb Stunden und „meint die ganze Welt“.  Also tönen Klänge und Geräusche des Alltags  mit herein. Rituale des Ankommens des Publikums vor dem Konzert sind außer Kraft gesetzt. Vom Tonband kommt Verkehrslärm und Wind (am Tag des Konzerts ein Föhnsturm), Trompetensignale. Alles ist anders – oder doch nicht ganz: Das Stimmen des Orchesters und der Dirigentenauftritt sind dann ganz konventionell.

Ein sechssätziges Werk hebt an. Teils mit ganz traditioneller Verwendung der Orchesterinstrumente (in hypertropher Riesenbesetzung, das vielgestaltige Schlagzeug ist z.B. in den Parterre-Seitenlogen bis fast hin zum Stehparterre platziert). Was einen Raumklang hervorbringt, den  bereits Hector Berlioz in seinen Monumentalwerken wie dem Requiem angestrebt hat.

Musik wie aus einem Setzbaukasten der Musikgeschichte wird hier buchstabiert, so ab der Spätest-Romantik, immer wieder tonale Inseln, mitunter geradezu schüchtern harmonisch. Angereichert durch eine Geräuschpartitur. Ein ausuferndes Paukensolo wie eine Etüde , der Paukist tobt sich aus. Kleinteilig die Zusammensetzung. Für Momente meint man, mit einer Art „Misterioso“ ginge es los wie im ersten Satz von Bruckners „Neunter“. Dann wieder typische Avantgarde-Glissandi, Klagelaute, Vogelgezwitscher (Olivier Messiaen lugt um die Ecke!), die Windmaschine wird angeworfen. Steigerungswellen wie orchestrale Tsunamis. In Generalpausen holt der Komponist sozusagen Luft für die nächste Idee. Ideen im Übermaß für jeden Einzelnen im Orchester. Ostinato-Klänge entwickeln einen suggestiven, eindringlichen Sog. Maschinenartiges Hämmern – auch ein bissl  „Sacre du Printemps“-Anklänge. Alle kommen dran – im Tutti und solistisch hervortretend. Dankbare Aufgaben für alle Musiker/innen. Alles bleibt im 45-minütigen „Con moto“-Teil in Bewegung. Allerdings: Musikalische Architektur, zwingende Folgerichtigkeit, vermisst man.  Ein vergleichsweise kurzes „Scherzo“. Ein „Adagio“-Format, ein Posaunensolo, das genauso in Mahlers „Dritter“ vorkommen könnte, wird bedeutsam angestimmt. Und dann stehen die Musiker auf, zitieren den Beginn des 2. Satzes aus der „Unvollendeten“ von Franz Schubert –  und gehen spielend hinaus. Das Signal für die Pause …

Danach wird es dichter, dringlicher, geschärfter und nicht so geschmäcklerisch beliebig. Sehr spät tritt die menschliche Stimme dazu. Vom Schrei („Kundry“ lässt grüßen?) in Richtung gleißender Vokalmelismen und schließlich in tiefen Sprechgesang (ohne Worte!) mündend. Ein „Finale alla Marcia“ beschließt das insgesamt etwas verrätselte Weltenstück.

Dirigent Baldur Brönnimann war der Souverän am Pult. Einer der versiertesten Vertreter für die Interpretation neuer und neuester Musik ist der in Basel Geborene. Er hielt die Klangmassen perfekt zusammen, imponierte mit klarer, Sicherheit gebender Gestik. Auf das ORF Radio-Symphonieorchester konnte er sich in jedem Moment verlassen. Wie z.B. die Stimmführer zwischen ihm und den Musikerkollegen höchst konzentriert kommunizierten, das nötigte größten Respekt ab.  Die Mezzosopranistin Anna Clare Hauf gestaltete ihren Part mit all ihrer Erfahrung und großer Ausdruckspalette. Perfekt  die Klangregie und Live-Elektronik (Florian Bogner) sowie die Tontechnik (Martin Laumann)!

Die Geräusche des Verkehrs nach Ende des Konzerts, so um 22:15 Uhr: Kurioserweise eine Oase der Stille war das in der Bösendorferstraße!

 

Diese Seite drucken