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WIEN/Musikverein: Der SINGVEREIN der Gesellschaft der Musikfreunde mit Gesängen und Geschichten von Feuer, Mord und Liebe
28.1. 2020 (Karl Masek)
Im „Jubiläumszyklus“, den die Gesellschaft der Musikfreunde zur 150-Jahr-Feier ihres Hauses anbietet, darf der Singverein nicht fehlen!
„Die Gründung des Singvereins geht in das Jahr 1858 zurück, als sich die Gesellschaft der Musikfreunde zu einer Neuorganisation ihres Musiklebens entschloss. Während die Instrumentalmusik in die Hände von Profis übergegangen war, sollte die Chormusik eine Domäne der Liebhaber,…, der Amateure … bleiben“, so der Konzertchor mit Weltruf in seiner Homepage.
So hob man z.B. 1867 die ersten drei Sätze des „Deutschen Requiems“ von Johannes Brahms aus der Taufe. Die erste vollständige Aufführung von Giuseppe Verdis „Quattro pezzi sacri“ wurde vom Singverein bestritten, als Premieren-Chor bei Anton Bruckners „Te Deum“, Gustav Mahlers „Symphonie der Tausend“ bei der Münchner Uraufführung 1910 in München (als einer von mehreren Chören) sowie bei Franz Schmidts „Buch mit sieben Siegeln“ (UA 1938 in Wien) schrieb man Musikgeschichte.
Bis heute lebt in diesem Chor – er besteht aus ca.240 aktiven Mitgliedern – ein Grundgedanke des Musikvereins weiter. Die ausübenden Mitglieder sind Amateure. Frauen und Männer, die anderen Berufen nachgehen und dennoch nicht nur „so nebenbei“ singen. Der Slogan des Chors lautet: „Singen ist nicht unser Job, sondern unsere Leidenschaft“.
Wie die Zeit vergeht! Es ist nun bald drei Jahrzehnte her, als der damals 33-jährige Johannes Prinz 1991 als Nachfolger des legendären, kürzlich verstorbenen, Helmuth Froschauer, nicht nur in große Fußstapfen eines persönlichkeitsstarken Chorleiters trat, sondern sich auch rasch als ganz außerordentlicher Könner profilierte. Inzwischen kann man ohne Übertreibung von der „Ära Prinz“ sprechen. Dank seiner Zielstrebigkeit, dem steten Bemühen um eine „gedeihliche“ Arbeitsatmosphäre, seiner immensen Erfahrung der klanglichen Dispositionskunst und perfektem Dirigier-„Handwerk“ hat der Chor in diesen Jahrzehnten großartige stilistische Flexibilität erreicht und zu einer Dauerhochform gefunden, die höchsten Respekt abnötigt. Er ist somit auch nach der prägenden Karajan-Zeit ein besonders geschätzter Chor. So unterschiedlichen Dirigiergrößen wie Claudio Abbado, Zubin Mehta (die beiden waren in den 50er Jahren als Studenten Mitglieder des Chors, einfach, um den großen Stars der damaligen Zeit „auf die Finger schauen zu können“), Pierre Boulez, Georges Prětre, Daniel Barenboim, Riccardo Muti, Franz Welser-Möst oder Christian Thielemann arbeiteten und arbeiten regelmäßig mit ihm.
„Feuerreiter“: So heißt dieses Jubiläumsprogramm, diesmal ohne Orchester, sondern mit 2 Pianisten (Eduard Kutrowatz, Johannes Kutrowatz) und dem Rezitator Joseph Lorenz. Kleine Formen, großes Theater. Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung – unter diesem Titel des Christian Dietrich Grabbe wäre manches zu subsumieren.
Aber: „Das Leben schreibt die kuriosesten Geschichten, die Liebe schlägt die tollsten Kapriolen, der Tod lauert immer und überall…genau darum kreist der Abend. In kleinen Formen zeigt er das große Theater des Menschlich-Allzumenschlichen, in Geschichten berührt er viele Schichten des Daseins. Mal pathetisch, mal heiter, mal fatalistisch, mal ironisch-kritisch – das Leben ist ein Fall für alle Stimmungslagen, die letzte große Unbekannte inclusive…“, so Joachim Reiber in seinem brillanten Essay im Programmheft.
Liebes- und Beziehungsgeschichten vor der Pause, „Tödliches“ dominiert danach. Bunter Wechsel in Musik und Wort als Spiegelbild des Lebens gewissermaßen.
Joseph Lorenz eröffnete mit Eduard Mörikes schauriger Ballade „Der Feuerreiter“- und das Podium war augenblicklich in rotes Licht getaucht. Der Wiener Kammerschauspieler versetzte das Auditorium mit brillanter Sprachkunst und vielschichtigen Stimmvaleurs in Hochspannung. Da trug einer Balladen von Schiller („Die Bürgschaft“), C.F. Meyer („ Die Füße im Feuer“) und schließlich Goethes „Erlkönig“ so vor, dass man sich in fern zurück liegende, geradezu nostalgische Vergangenheit versetzt sah. Derlei glaubt man, seit den Vortragsabenden oder Schallplattenaufnahmen des Oskar Werner nicht mehr gehört zu haben. Grandios! Da nimmt man auch gelegentlich übersteuerte Exzentrik und gewisse Manierismen hin: Endlich wieder einmal ein großartiger Sprecher, der auch die Skurrilitäten des Christian Morgenstern („Der Werwolf“) oder das spezielle Wienerisch des Hans Adler (in der „Vorstadtballade“) köstlich zum Klingen bringt.
Johannes Prinz kann man nach diesem fulminanten Abend ohne Übertreibung als Großmeister unter den Chorleitern bezeichnen. Der Singverein, den man traditioneller Weise mit den großen Chorwerken der Musikgeschichte von Haydns „Schöpfung“ über Beethovens „Missa Solemnis“ bis hin zu den Requien von Mozart und Brahms über Verdi bis Britten in Verbindung bringt, versetzte uns mit Schätzen aus der a capella-Literatur in eine besondere Form des konzentrierten Zuhörens, das nicht die kleinste Ablenkung zuließ. Man war vertieft wie Kinder, die beim konzentrierten Spiel Welt und Zeit vergessen.
Man wurde in eine Zeitreise mitgenommen, die auch Landschaften (reale wie Seelenlandschaften) mit einschloss. „Am Donaustrande“ und „Ein kleiner, hübscher Vogel“, beide aus „Liebeslieder.Walzer für Singstimmen und Klavier zu vier Händen, op.52 zeigte den oft so schwerblütigen Johannes Brahms von einer ungewohnt heiteren, leichtfüßigen Seite. Ob „Der Wassermann“ des Robert Schumann, die englische Ballade von den drei Raben (aus Schottlands „Highlands“?), die einen erschlagenen Ritter als Frühstück ins Visier nehmen, die köstlichen Genrestücke des Francis Poulenc und des Benjamin Britten (The Ballad of Green Broom = ein Ginstergewächs): der Chor glänzte durch enorme Bandbreite des Ausdruck und der sprachlichen Nuancen.
Besondere Höhepunkte dabei Chorwerke, weitab von üblichem Kernrepertoire. Vom tschechisch-mährischen Komponisten und Antonin-Dvořák-Schüler Vitězslav Novák (1870-1949) werden vermutlich noch nicht allzu viele gehört haben. Seine „Zwei Balladen auf Worte mährischer Volkspoesie für gemischten Chor und Klavier zu vier Händen, op.23, entstanden 1900, erzählen schaurig-blutige Geschichten aus dem Fundus der mährischen Folklore-Tradition. Zugleich ersteht die Flusslandschaft der Mährischen Höhen vor dem geistigen Auge. Oder: die ungarische Tiefebene, wenn in einem Frühwerk des György Ligeti das tragische Schicksal einer „Frau Pápai“ geschildert wird, der 9 Banditen nach dem Leben trachten.
Voll der Groteske „Three Nonsense Songs“ (Komponist: Mátyás Seiber, 1905-1960 – vorher nie gehört!) und die Vertonung „km 21“ von Christian Morgenstern durch den Berner Komponisten Franz Tischhauser (1921-2016): „Ein Rabe saß auf einem Meilenstein/Und rief Ka-em-zwei-ein, Ka-em-zwei-ein…“. Der herrlich penetrante „Rabe“ war dabei der bejubelte Chorsolist Wolfgang Adler. Nomen est omen.
Schließlich noch eine Chorversion von Mörikes „Feuerreiter“ durch den hoch begabten, in der unseligen Nazi-Zeit durch Freitod geendeten Hugo Distler (1908-1942). Unruhiges Parlando beim „Hinterm Berg, hinterm Berg, brennt es in der Mühle…“. Unheimliches „Ruhe wohl…“ wird der Titelfigur zum Abschied mitgegeben.
Die Brüder Kutrowatz rundeten dieses Konzert im Goldenen Saal des Musikvereins trefflich mit 2 Ungarischen Tänzen in der Originalversion für Klavier zu 4 Händen (die selten zu hörenden Nummern 11 und 8) ab und waren die hellwachen Begleiter des vielfältigen Chorgeschehens.
Der stürmische Jubel für alle Mitwirkenden war verdient! Möge für die Mitglieder des Singvereins das Singen weiterhin „kein Job, sondern Leidenschaft“ bleiben!
Karl Masek