Beethovens neunte Sinfonie unter Riccardo Muti aus dem Wiener Musikverein via 3sat am 2. November 2024/
Gewaltige Steigerungen
Zum 200. Geburtstag der Uraufführung von Beethovens legendärer Sinfonie Nr. 9 in d-Moll opus 125 wurde mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Riccardo Muti einmal mehr deutlich, dass dieses Werk eine Sonderstellung im Schaffen Beethovens einnimmt. Dies wurde sowohl von seinen Anhängern wie seinen Kritikern bestätigt. Die einen rühmten den unvergleichlichen Ausdrucksreichtum dieses Werkes, die anderen rügten die kantatenhafte Einbeziehung der Menschenstimmen in die Sinfonie als schweren Verstoß gegen Wesen und Form der Sinfonie, billigten insbesondere der Melodie des Freudenhymnus nicht den Wert zu, der Beethovens Einfällen sonst eignet. Doch Beethoven feiert als „Menschenrechtler“ bei jeder Aufführung immer wieder einen weiteren Triumph. So auch in Wien! Selbst eine Nähe zur „Missa solemnis“ war hier durchaus herauszuhören.
Der erste Satz, Allegro, ma non troppo, un poco maestoso, begann leise wie im trist-grauen Chaos des Nichts. Dann erst formte sich aus den Dreiklangstönen der Grundtonart gebieterisch das gezackt niederstürzende Hauptthema. Es wurde nochmals von der nebelhaften Öde des Anfangs verdeckt, kehrte dann aber mit voller Energie zurück. Auch der vielgestaltige Komplex des Seitenthemas ging bei Riccardo Muti nicht unter. In leidenschaftlichem Trotz behauptete sich das kurze, verbissene Motiv. Mit einem gewaltigen thematischen Material arbeitete hier auch die Durchführung, die wieder im grauen Nichts des Beginns anhob. Die Scherzoform des zweiten Satzes, Molto vivace, folgte ungestüm und forsch. Hart und jäh setzte das eintaktige Kopfmotiv ein, das nach einer viermaligen Wiederholung engste Beziehungen zum Hauptthema des Kopfsatzes besaß. Doch Muti übertrieb bei den Tempi niemals. Leise und gespenstisch jagte das Motiv in knisterndem Fugato daher, schwoll drohend an und hielt hartnäckig an seinem Rhythmus fest. Fast dämonisch lustig erklang plötzlich ein neuer Gedanke in den Holzbläsern. Auch der trio-ähnliche Mittelteil, dessen Taktwechsel das rhythmisch entschärfte Kopfmotiv brüsk signalisierte, kam innerlich nicht recht zur Ruhe, was gut herausgearbeitet wurde. Diese Dur-Melodie besaß hier Beziehungen zum „Freudenthema“ des Finales. Gleichsam erdenfern blühte im Adagio molto e cantabile, dem dritten Satz, in den geschmeidigen Violinen ein Trost und Ruhe spendender Gesang auf. In sanfter Entrückung sich emposchwingend, mündete er in eine sphärenhaft gestaltete Weise. Höhepunkt des Abends war die Interpretation des Finales, wo der gellende Ausbruch in einer dynamisch überzeugend gestalteten Wiedergabe zur Geltung kam. Mit einem wuchtigen Rezitativ antworteten die tiefen Streicher, wurden aber von einem neuen Ausbruch übertönt. Die angedeuteten Hauptthemen der vorangegangenen Sätze erschienen bewegend. Drängender, leidenschaftlicher schob sich jetzt das Rezitativ dazwischen, bis Oboen und Fagotte zart auf die Melodie der Freudenhymne anspielten. Von den tiefen Streichern aufsteigend, breitete sie sich schwungvoll-begeistert aus. Und nun erst ließ der Baß Günther Groissböck den beschwichtigenden Ruf „O Freunde, nicht diese Töne!“ erklingen. Die vier Solisten Julia Kleiter (Sopran), Marianne Crebassa (Alt), Michael Spyres (Tenor) und Günther Groissböck (Baß) und der Chor sangen Schillers Worte der Freudenhymne. In leidenschaftlicher Begeisterung steigerte sich der Jubel zu einem überwältigenden Höhepunkt: „…und der Cherub steht vor Gott“. Als weitere Variation der Freudenhymne erschien die marschartige Episode „Froh, wie seine Sonnen fliegen“ mit großer Trommel, Triangel und Becken. Überirdisch gestaltete der ausgezeichnete Wiener Singverein die packende Stelle „über Sternen muss er wohnen“. Und als grandiose Doppelfuge mit den Themen der Freudenhymne und des „Seid umschlungen“ schloss sich eine neue Steigerung an, die in ekstatische Begeisterung mündete.
Großer Jubel.
Alexander Walther