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WIEN/ Musiktheater an der Wien: „One single word – absurd!“ – Leonard Bernsteins „CANDIDE“

27.01.2024 | Oper in Österreich

„One single word – absurd!“ – Leonard Bernsteins „Candide“ am Theater an der Wien, Aufführung vom 26.01.2024

Als Voltaire 1759 unter dem Pseudonym „Docteur Ralph“ seine satirische Novelle „Candide ou l’optimisme“ veröffentlicht, positioniert er sich gegen Gottfried Wilhelm Leibniz‘ Postulat, die Menschheit lebe in der besten aller möglichen Welten, da Gott in seiner Vollkommenheit zwar in der Lage sei, alle möglichen Welten zu denken, aber das weniger Vollkommene aufgrund seiner Vollkommenheit nicht durchführen könne. Insbesondere der siebenjährige Krieg und das Erdbeben von Lissabon ließen Voltaire an dieser optimistischen Philosophie zweifeln und die Frage nach dem Theodizee Problem aufwerfen: Wie kann es sein, daß ein gütiger Gott existiert, wenn dieser doch so viel Leid und Elend zulässt? Als die Broadway-Autorin Lillian Hellman sich in den 1950er Jahren des Werks annimmt, überzeugt Leonard Bernstein sie davon, nicht nur ein Theaterstück mit Begleitmusik zu schreiben, sondern das Libretto für eine komische Operette zu liefern. Bernstein selbst erkennt einerseits die Zeitlosigkeit des Themas und andererseits sich selbst als Optimist in der Person des Titelhelden Candide wieder. Ebenso nimmt er die Bedeutung von Voltaires Werk und des Theodizee-Problems für die europäische Kulturgeschichte zum Anlass, zahlreiche Elemente aus der europäischen Musikgeschichte zu in candide einzubauen: Bernstein schreibt Walzer, Flamenco, Gavotte, Barkarole und Mazurka in die Partitur, Cunegondes Arie „Glitter and be gay“ schließlich ist technisch für einen Koloratur-Sopran ausgelegt und kommt doch im Gewand des Jazz daher, womit Bernstein den Kreis zur genuin amerikanischen Musik und damit sich selbst und seiner eigenen, amerikanischen Gegenwart schließt. Gemeinsam mit dem wunderbar absurden Libretto, welches Candide eine skurril-komische Reise um die ganze Welt aufnötigt, bietet das Werk also zahlreiche Möglichkeiten einen fabelhaften Abend zu gestalten.

Dabei ist auch der Zeitpunkt, an welchem das Theater an der Wien die Seria zu Candide bringt klug gewählt, feiert doch das Biopic Maestro derzeit große Erfolge in den Kinos und auf Netflix, das Interesse an den Werken Bernsteins ist derzeit entsprechend groß. Auch die Werbetrommel wurde im Vorfeld bestens gesteuert, vorab gestreute Eindrücke vom Bühnenbild und eine vielversprechende Besetzung liessen einiges hoffen. Tatsächlich legt Marin Alsop, deren Mentor Bernstein war, gleich zu Beginn des Abends eine prachtvolle Ouvertüre vor: Fast schon gemächlich, nahezu heimelig beginnen die ersten Takte, passend zum beschaulichen Westfalen, in dem die Geschichte beginnt. Präzise arbeitet Frau Alsop die einzelnen Instrumentengruppen heraus und setzt so treffgenaue Akzente, die das musikalische Konzepts Bernsteins schon in der Ouvertüre umreißen. Dann zunehmend schneller werdend weist sie auf das hin, was laut Libretto der Abend bringt: Eine turbulente Fahrt voll aberwitziger Kapriolen. Und auch hier bleibt sie sauber und präzise in der Leitung des RSO Wien, kitzelt bei zunehmender Geschwindigkeit fabelhafte Klangfacetten aus der Musik Bernsteins und verdichtet die Ouvertüre aus dem kreativen, immer schneller werdendem Chaos schließlich zum strahlend prächtigem Sound des Broadways. Ohne Frage, Marin Alsop und das RSO sind eine fabelhafte Mischung, die an diesem Abend den amerikanischen Jazz der 50er Jahre nach Wien und gleichzeitig alle europäischen Musikelemente in Candide bestens zur Geltung bringt – Brava Marin Alsop, bravo RSO Wien!

Das erste Bühnenbild greift den prächtigen Klang gekonnt auf, in farbenfrohen und opulenten Kostümen begrüßen uns die Bewohner Westfalens „Fa Re Fa Si La Sol Fa Fa, be welcome in Westphalia!“ und der Blick eröffnet sich auf zunächst vier ineinander gestaffelte und mit Glühbirnen versehene Rahmen, die an die charakteristischen Spiegel in einer Theatergarderobe erinnern. Diese bilden über den ganzen Abend hinweg die Konstante des Bühnenbilds und weisen wohl darauf hin, dass die Produktion beabsichtigt, der Welt (und auch dem Publikum) den Spiegel vorzuhalten. Darin zeigt sich im ersten Bild eine übertriebene Idylle, welche an die Zeichnung eines Kindes erinnert. Von Bäumen und Büschen umrahmt sehen wir ein steinernes Häuschen, welches später als Schloss des Baron Thunder-ten-Tronckh ausgewiesen wird – „A scene of sweet simplicity, Teutonical rusticity“. Abweichend zum originalen Libretto, führt Lydia Steier in ihrem Regiekonzept hier einen Erzähler ein.

Nun muss man dazu wissen, daß Candide in drei Versionen existiert, der Originalversion von 1956, einem Einakter von 1973 und der 1988er Version des Theatre Royale, Glasgow. Hinzu kommt eine Konzertversion, die am 12. Dezember 1989 in der Londoner Barbican Hall mit Christa Ludwig als Old Lady uraufgeführt wurde. Die Handlungsstränge variieren bei allen Versionen leicht, insbesondere in Bezug auf die auftauchenden Personen. So ist es beispielsweise in der 56er Version Dr. Pangloss, der eine gewisse erzählende Funktion hat, während in der 76er Version Voltaire selbst auftaucht. Frau Steier hingegen hat sich für die Konzertversion entschieden und bedient sich eben des Kunstgriffes einen Erzähler einzuführen, welcher die einzelnen Nummern miteinander verbindet und zunächst mit feinstem britischen Understatement starke Erinnerungen an Monty Python weckt. Was sich dann im ersten Bild darstellt, ist durchaus heiter und fröhlich, teilweise ein wenig schlüpfrig, beispielsweise wenn sich Dr. Pangloss über das Dienstmädchen Paquette hermacht, bei welcher er sich dann auch gleich die Syphillis einfängt. Wir schmunzeln noch, doch was dann nach dem ersten Bild folgt, kann nur als primitive Geschmacklosigkeit bezeichnet werden, die sich von Bild zu Bild immer weiter steigert und dabei aliquot im Niveau sinkt.

Nachdem zum Ende des ersten Bildes, die Bulgaren in Westfalen eingefallen sind, das Schloss des Barons zerstört und auch Cunegonde ermordet haben, fliehen Candide und Pangloss in einem Schiff nach Lissabon, wo ihr Eintreffen mit dem Erdbeben von 1755 aufeinander fällt und sie während des Autodafés gleich als häretische Verursacher desselben angesehen werden. Problematisch ist hier mitnichten die volksfestartige Darstellung um das Autodafé herum. Es ist auch klar festzuhalten, daß die Kostüme von Ursula Kudrna und das Bühnenbild von Momme Hinrichs wirklich farbenfroh sind und von Ausdruckskraft nur so strotzen.

Wirklich grenzwertig wird es allerdings zum ersten mal, wenn massenhaft Menschen am Galgenstrick den Schnürboden hinaufgezogen werden. Das mag bühnentechnisch eine fabelhafte Leistung sein. Unter dem Hintergrund derzeitiger Kriege und auch des terroristischen Überfalls auf Israel und den damit verbundenen Abschlachtungen schießt das jedoch deutlich über das Ziel hinaus. Nicht zuletzt auch, da im Libretto lediglich Pangloss gehängt wird, Massenhinrichtungen sind dort nicht vorgesehen. Etwas mehr Pietät ist hier definitiv angebracht, denn derzeit ist eine solche Darstellung nicht mehr ironisch oder gar sarkastisch, sondern einfach nur taktlos und unangemessen.

Doch damit noch nicht genug der Geschmacklosigkeiten, im darauffolgenden Bild finden wir uns in Paris wieder, wo Cunegonde sich nunmehr als Kurtisane verdingt. Insbesondere zwei Männer, der jüdische Bankier Don Issachar und der Kardinal Erzbischof von Paris begehren sie, wobei der Erzähler darauf hinweist, dass sie sich Cunegonde eben teilen müssten. Don Issachar Dienstags, Donnerstags und am jüdischen Sabbat, der Kardinal-Erzbischof Mittwochs, Freitags und an seinem katholischen Sabbat (was so im Libretto steht). Dieses Teilen sei unvermeidbar, da Don Issachar als Kreditgeber des Kardinals und der Kirche eben nicht bekämpft werden könne (was nicht im Libretto steht). Dass auch diese Ergänzung nicht nur religiöse Gefühle verletzt, sei geschenkt, denn sie ist so unoriginell und gähnend langweilig, dass wir über sie nur peinlich berührt die Augen verdrehen können. Was allerdings auch dezidiert nicht im Libretto steht, ist das, was sich dann bei Cungeondes Arie „Glitter and be gay“ auf der Bühne ereignet.

Denn wir sehen auf der Bühne nichts was irgendwie auf Paris hinweisen könnte, sondern nur ein Bett, in welchem sich zunächst eben der Kardinal Erzbischof und dann Don Issaachar mit Cunegonde vergnügen und schließlich alle beide unter Hinzunahme weiterer Darsteller schliceßlich Gruppensex vollziehen. Während das Libretto vorsieht, daß Cunegonde alleine uim Raum stehend diese Arie singt und dabei zwischen Trauer und dem Reiz von Gold und Edelsteinen hin und her gerissen ist, ist die hier gewählte Darstellung gleich in mehrerer Hinsicht problematisch:

Zunächst macht sie es Nikola Hillebrand nahezu unmöglich, sich in dieser Positur auf die Arie zu konzentrieren, die nun wirklich nicht ohne Anspruch ist. Das ist ihr gegenüber in künstlerischer Hinsicht mehr als unfair, denn Frau Hillebrand verfügt nicht nur über eine ausnehmend frische und schöne Klangfarbe. Auch gelingt es ihr, die Umstände so gut wie irgend möglich zu meistern – brava! Nur dass eben auf der Bühne nicht ihre Koloratur, sondern obszönes Gerammel im Vordergrund steht (Frau Steier fand es  darüber hinaus offensichtlich nötig, Don Issaachar einen besonders großen, nicht zu übersehenden Phallus in die Hose zu montieren) und ihre gesangliche Leistung völlig in den Hintergrund gedrängt wird.

Hinzukommend ist diese Darstellung natürlich in höchstem Maße sexistisch und antifeministisch. Ohne Not wird hier wieder einmal etwas hinzugedichtet, was weder im Libretto steht, noch die Geschichte weiterbringt, aber auf billigstem Niveau beleidigend ist. Dafür wird es vom Publikum mit großem Gejohle goutiert und man muss sich doch fragen, ob es sich um einen Musiktheater-Abend oder primitivste Massenbelustigung im Stile von Panem et circensis handelt, was wir hier erleben müssen. Klar wird spätestens hier, daß sich Frau Steier nicht nur verschiedener Textelemente aus den unterschiedlichen Candide Versionen bedient, sondern das Werk um ihre eigene Lesart anreichert und bewusst sexuell aufladen will.

Was interessanter Weise dann aber nicht gezeigt wird, ist die Anweisung des Librettos, daß der Kardinal nach der Tötung durch Candide in einer Kathedrale, der Jude Don Issaach hingegen in die Kanalisation von Paris geschmissen wird. Daß ein solches Aufzeigen von Antisemitismus, heute, nach den widerwärtigen Anschlägen auf Israel ausgelassen wird, wirft das ebenso abstoßendes Licht des Antisemitismus auf diese Produktion, welche die ja ohnehin schon festzustellenden Geschmacklosigkeiten zusätzlich noch vergrößern – pfui!

Es ziehen sich die Widerwärtigkeiten weiter durch den Abend und fast jedes Bild wird durch ein zunehmendes Maß an sinnlosen Obszönitäten „bereichert“: So entledigen sich die Torreros in Cadice mit einem Mal ihrer Hosen, die darunter liegenden, pinke Unterwäsche aus glitzernder Paillette ist im Bereich des Geschlechts jeweils mit einer Marienstatue „geschmückt“.
Bei der Ankunft in Buenos Aires lässt sich der Gouverneur Don Fernando auf einem silbernen Tablett verschiedene Sexspielzeuge servieren, führt sich prompt eines davon in den Hintern ein und fängt an herumzuquiecken und zu zappeln, nur um im nächsten Bild dann über seinen Schreibtisch gebeugt durch Cunegonde mit einem überdimensionalen Dildo penetriert zu werden, Unmengen von Kokain zu konsumieren und mit einer silbernen Pistole herumzufuchteln.

Flankiert werden die billigen Sexwitzchen durch zunehmende Einfallslosigkeit: Irgendwann ist es nicht mehr witzig wenn der Erzähler zum wiederholten male den Satz „And then, they we’re getting in a boat“ spricht. Erneut kommt während des in Surinam spielenden Bildes  (wie bereits im ersten, westfälischen Bild) eine Schultafel zum Einsatz, auf die ein ejakulierender Penis gemalt wird – eine selbstentlarvende Szene, denn in er Tat ist der humoristische Aspekt mittlerweile auf das Niveau pubertierender Buben gesunken. Auch ist nichts skandalöses bei den Darstellungen die wir sehen müssen: Als im letzten, venezianischen Bild statt eines Casinos eine Sexparty gezeigt wird, müssen wir feststellen, daß jeder 70er Jahre Softporno skandalöser ist, als die hier gewählte und vollkommen sinnlose Übersexualisierung.  

Zuvor lässt aber Frau Steier noch ein wenig moralische Überheblichkeit zum Vorschein kommen: Anstatt nach dem Schiffbruch Candides die tatsächlichen Monarchen im Meer schwimmen zu lassen (im Libretto sind dies Charles Edward Stuart, Sultan Achmed III., Zar Ivan VI., August III. von Polen, Stanislaus I. Leszczynski und Theodor von Korsika), sehen wir hier Abbilder verschiedener zeitgenössischer Despoten die an Saddam Hussein oder Kim-Jong-Un und – ohne jedwede Sprechrolle nur durch Krächzen verlautbar machend – natürlich Donald Trump. Dass hier nun nichts originelleres mehr einfällt, Frau Steier sich hier aber mit ein wenig Gratismut schmücken kann, ist dann nur mehr erbärmlich.
Tatsächlich aber ist es möglich noch tiefer zu gehen: Denn Donald Trump sitzt in Folge  während der venezianischen Sexparty auf einer durchsichtigen Kiste voller Glory Holes, frisst dort mit Geldscheinen in sich hinein und verreckt auf dieser Kiste, während dort in verschiedensten Varianten Sexualität ausgelebt wird. Wir staunen vor so viel antihumanistischer Gesinnung in Verbindung mit Würde- und Geschmacklosigkeit.

Eine Schande ist dieses Spektakel auch deshalb, da nicht nur Nikola Hillebrands gesangliche Qualität völlig verloren geht. Auch die fabelhaften Partien von Matthew Newlin als Candide, die insbesondere bei „Make our Garden grow“ wunderschön einen Höhepunkt bilden gehen völlig unter. Von den Finessen der Bernsteinschen Musik einmal ganz abgesehen. Ein Trauerspiel.

Als Fazit ist festzustellen, daß Candide am Theater an der Wien ein übersexualisiertes Massenschauspiel ist. Unter dem Vorwand der Satire wird eine billige Reizüberflutung erzeugt, die es dem Publikum ermöglicht, ohne jedwede Scham und Zier auf billigstem Stammtischniveau mal so richtig die Sau rauszulassen. Damit beweist der Abend wohl unbewusst aber treffend die Richtigkeit der Worte des Liedes “Word“ aus dem Surinam-Bild: „Two tiny syllables but spiny syllables, one single word – absurd. Ha! Absurd. […] Nothing to trust in this worst of all possible worlds. All ends in dust in this worst of all possible worlds.”

E.A.L.

 

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