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WIEN / MusikTheater an der Wien im MQ: Premiere DER IDIOT

Mieczyslaw Weinberg - Die Entdeckung eines Musikdramatikers

28.04.2023 | Oper in Österreich
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Ekaterina Sannikova (Nastassja), Dmitry Golovnin (Myschkin), Petr Sokolov (Lebedjew) und Dmitry Cheblikov (Rogoschin). Alle Fotos: MusikTheater an der Wien / Monika Rittershaus

WIEN / MusikTheater an der Wien im MQ: Premiere der Oper DER IDIOT

28. April 2023 – Premiere

Von Manfred A. Schmid

Der jüdisch-polnische Komponist Mieczyslaw Weinberg, der vor den Nazis in die Sowjetunion flüchten musste und dort in Dmitry Schostakowitsch einen Freund und Förderer fand, war vor etwas mehr als eineinhalb Jahrzehnten noch weitgehend unbekannt. Erst mit der Uraufführung seiner Oper Die Passagierin (The Passenger) bei den Bregenzer Seefestspielen, fünfzehn Jahre nach seinem Tod 1996 – weitere Aufführungen folgten, u.a. in Graz -, wurde man auf ihn aufmerksam. Von seiner Mitte der 80-er Jahre geschriebene Oper Der Idiot erlebte der Komponist, der in seiner neuen Heimat vor allem für seine außergewöhnlichen Filmmusiken geschätzt wurde, nur eine reduzierte Version als Kammeroper. Nach ihrer Uraufführung 2013 in Mannheim bietet nun die österreichische Erstaufführung am MusikTheater an der Wien – im Ausweichquartier der Halle E im Museumsquartier – eine gute Gelegenheit, diesen bemerkenswerten Komponisten und eine der wichtigsten Opern aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts näher kennenzulernen.

Das Libretto der auf Fjodor Dostojewskis gleichnamigen Roman basierenden Oper verfasste Alexander Medwedew, von dem auch das Libretto zu Die Passagierin stammt. Dass es Medwedew gelingt, den umfangreichen, ausufernden Text auf Opernlänge einzukürzen, gleicht einem Wunder. Vier Stunden inklusive Pause sind allerdings doch von beachtlicher Länge und eine enorme Herausforderung für die Regie. Dem jungen Russen Vasily Barkhatov gelingt es, in seiner Inszenierung mit einer präzisen Personenführung, die die komplexen Beziehungen und erotischen Verstrickungen stets nachvollziehbar in den Fokus rückt, die Spannung weitgehend aufrechtzuerhalten. Eine wichtige Rolle spielt dabei die praktikable Drehbühne von Christian Schmidt, ein Container, der zunächst ein Zugabteil darstellt – Fürst Myschkin, der Idiot, reist nach mehrjährigem Aufenthalt in einem Schweizer Sanatorium in seine Heimat zurück –  in weiterer Folge aber problemlos auch als Schauplatz für die  meisten andere Begegnungen herhalten kann, wobei die Fensterfront des Abteils auch als Projektionsfläche für Videos genützt wird. Die schier endlose Weite Russlands wird mit vorbeiziehenden, verschneiten Landschaften eingefangen. Zuweilen gibt es auch Großaufnahmen der Gesichter der beiden weiblichen Hauptpersonen Nastassja und Aglaja zu sehen.

Dass man bis zum Schluss wachbleibt, liegt vor allem an der farbenreichen Musik Weinbergs, die in ihrer wuchtigen Expressivität oft an Schostakowitsch erinnert. Weinberg verstand sich in gewisser Weise auch als dessen Schüler: „Obwohl ich nie eine Unterrichtsstunde bei ihm hatte, bin ich sein Schüler in Fleisch und Blut.“ Die Blechpassagen unterstreichen den grimmigen, vorwärtstreibenden, ruhelosen, geradezu unbarmherzigen Zug der Handlung, es gibt aber auch zarte, an Bartok erinnernde lyrische, bittersüße Momente, in denen, dank exquisiter Instrumentierung, die stets drohende Gefahr aber nie zur Gänze gebannt zu sein scheint.

Thomas Sanderling, der, wie sein Vater Kurt Sanderling, ein glühender Verfechter der Musik Weinbergs ist und schon die Mannheimer Uraufführung geleitet hat, ist am Pult des mit viel Applaus bedachten Radios Symphonieorchesters Wien ein idealer, mit vollem Einsatz und tiefer Kenntnis ans Werk gehender Interpret. Ihm zur Seite steht weiters der famose Arnold Schoenberg Chor, von dem diesmal nur der Männerchor benötigt wird, sowie ein gutes Ensemble russischer bzw. slawischer Sängerinnen und Sänger. Schade nur, dass man nicht daran gedacht hat, den in Österreich lebenden, vielseitigen Bariton Steven Scheschareg, der als Rogoschin in Mannheim international gefeiert worden ist, auch bei der österreichischen Erstaufführung einzusetzen. „Steven Schescharegs Rogoschin hat schlicht Weltklasse“, resümierte damals das Deutschlandradio. Nicht dass Dmitry Cheblykov kein ausgezeichneter Interpret dieser Rolle wäre, er hinterlässt mit seiner dunkel gefärbten Stimme und seiner intensiven Darstellung eines rettungslos in Nastassja verliebten Kaufmanns, der mit Geld alles kaufen zu können glaubt und Nastassja schließlich ersticht, einen starken Eindruck. Aber wenn man schon einmal einen gestandenen Rogoschin in Reichweite hat, dann hätte man sich eine weitere Suche wohl ersparen können.

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Petr Sokolov (Lebedjew) und Ekaterin Sanikova (Nastassja).

Die Titelrolle ist mit dem Tenor Dmitry Golovnin ausgezeichnet besetzt. Dostojewskis Fürst Myschkin ist zwar nicht gesund, leidet an Epilepsie und ist etwas eigenwillig und realitätsfern, gewiss aber kein Idiot. Vielmehr ist er eine Art Don Quixote, von Golovnin traumhaft dargestellt, der verirrte Menschen erlösen will, mit seinen Interventionen aber nur für Verwirrung sorgt und die jeweiligen Konstellationen weiter verkompliziert. Er verliebt sich, wie Rogoschin, in Nastassja, eine gesellschaftlich verachtete, aber faszinierende Frau. Während  Rogoschin von einer dunklen Leidenschaft und Besitzgier angetrieben scheint, beruht Myschkins Liebe auf Mitleid: Er will die gefallene Frau retten, fühlt sich aber auch zu Aglaja, der schönen Tochter eines Generals, hingezogen, woraus sich für die vier darin verfangenen Personen ein Geflecht von Abhängigkeiten materieller und sexueller Art ergibt. Es geht um Beziehungsunfähigkeit und Besessenheit, auch seelische Verletzungen sind die Folge. Letzteres unterstreicht Regisseur Barkhatov, indem er die seelischen Verwundungen auch körperlich sichtbar macht. Fast alle Beteiligten sind „Ritzer“, die sich mit einem Messer die Haut an den Armen oder an der Brust selbst verletzen (in einem Fall sogar am Rücken, durchgeführt von einem damit Beauftragten). Böse, verletzende Worte werden in diesen Ritzereien protokollierend festgehalten und verweisen auf anhaltende seelische Belastung. Ein krankhaftes Symptom, das allerdings gewöhnlich nur bei Jugendlichen zu finden ist, dem noch jungen Regisseur aber für tauglich erschien, hier effektvoll eingesetzt zu werden.

Die in der Romanvorlage relativ kleine Rolle des schurkischen Lebedjew wurde von Mewedew zu einer bemerkenswert faszinierenden Figur aufgewertet. Er ist in fast allen Situationen dabei, die er manipuliert, kommentiert und vorantreibt, zum Teil aus voyeuristischem Interesse, zum Teil aus Geldgier. Petr Sokolov ist großartig in der Szene, als Nastassja ein Geldbündel von 100.000 Rubel anzündet und ihn auffordert, dass Geld mit bloßen Händen aus den Flammen zu holen. Seine Reaktion, bis er schließlich resigniert, lässt auf einen starken inneren Kampf schließen. Warum die Geldverbrennung ausgerechnet in einem Klavier stattfinden muss, dass zuvor noch vom Bühnenmusiker Mennan Berveniku mit schräger Unterhaltungsmusik (Walzer!) bespielt worden ist, bleibt schleierhaft. Ekaterina Sannikova ist jedenfalls eine hinreißend verführerische, selbstbewusste Frau, eine femme fatale wie sie im Buch Dostojewskis steht.

Am meisten und am schönsten zu singen in dieser Oper hat allerdings Aglaja, die begehrteste der drei Töchter des Generals Jepantschin und seiner Gemahlin. Sie ist die einzige, die in der durchkomponierten Oper von Weinberg so etwas wie Arien zugewiesen bekommt. Ieva Prudnikovaite nützt diese Chance und bringt mit ihrem farbigen Mezzo Melodien zum Klingen, die auf Mahlers Orchesterlieder und sein Adagietto verweisen. Als ihre beiden Schwestern kommen Tatjana Schneider (Alexandra) und Bernadette Kizik (Adelaide) zum Einsatz.

Einen fein gestalteten Auftritt hat Kamile Bonté als Warja, Ganja Ivolgins Schwester. Mihails Culpajevs überzeugt als Ganja ebenso wie Kseni Vyaznikova als gelangweilte Mutter der drei Töchter.

Ein denkwürdiger Opernabend, der in der letzten halben Stunde sich etwas dahinschleppt, aber gerade noch rechtzeitig zu Ende geht, um noch kräftig beklatscht zu werden. Eine der bedeutendsten Opern aus dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts ist endlich in Wien angekommen.

 

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