„LE CORSAIRE“ zum allgemeinen Genuss und VIENNA INTERNATIONAL BALLET EXPERIENCE für den Tänzernachwuchs
Copyright: Wiener Staatsoper/ Michael Pöhn
So schön sie auch zu glänzen vermag, die Welt des klassischen Balletts, sie kennt neben Wundern auch ihre Wunden. Nicht nur körperliche. Denn das erhoffte Ziel, das diese jungen Menschen, welche sich zu den Verführungen der Tanzkunst und ihren kurzlebigen Beglückungen hingezogen fühlen und bei ihrer Ballett-Ausbildung erträumen, wird von den wenigsten erreicht. Andererseits aber auch, als lockendes Vorbild für sie und zum Glück gestandener Freunde solchen Genres mit erotischer Komponente, hat der Premierenerfolg des Schaustückes „Le Corsaire“ in der Staatsoper dem Wiener Staatsballett schon sehr gut getan und dessen Renommee unterstrichen. Und der vom Österreichischen Tanzrat neu gestartete Ballettwettbewerb Vienna International Ballet Experience, kurz VIBE benannt, hat im MuTh–Konzertsaal ein internationales freundschaftliches Treffen für die Kleinsten (ein Putzerl süß den Walkürenritt hüpfend) wie für ihren Karrierestart anpeilende elegante Jungballerinen gebracht.
Tagesgespräch bleibt jedoch die perfekte Einstudierung des Ballettklassikers „Le Corsaire“ (der musikalisch so gar kein Klassiker ist und als abendfüllendes Ballett noch nie zuvor in Wien aufgeführt wurde) durch Ballettchef Manuel Legris, der sich nun durchaus eines vollen Erfolges rühmen darf. Dieses ehrwürdig ergraute Stück, 1856 in Paris uraufgeführt und mit seiner Pathetik tief im 19. Jahrhundert verwurzelt und dazwischen auch vergessen, ist in den letzten Jahren zwar nicht gerade in Mode gekommen, doch es gibt und gab rundum einige Produktionen zu sehen. Gleich nebenan, gut geglückt, in Bratislava etwa; oder in München, in Toulouse, London oder Kopenhagen, produziert auch vom American Ballet Theatre, etc. Alle diese Versionen suchen ihren Ausgangspunkt bei Choreographen-Legende Marius Petipa, der seine erste von vier Fassungen 1863 in Moskau schuf. Doch gesichert überliefert ist nicht gerade viel, und somit sind diese neuen Einstudierung in zahlreichen ihrer Details völlig anders geraten; auch in der Zusammenstellung der Musiknummern. Angepasst den Möglichkeiten, dem Stil der Kompanien, dabei stets um die Rekonstruktion verflossener historischer Tradition bemüht. Und wie könnte es anno dazumal wirklich gewesen sein? Albert Mirzoyan aus St. Petersburg, Probenleiter des Wiener Staatsballetts, ist Legris mit seiner Erfahrung behilflich zur Seit gestanden, doch auch er muss sagen: „…. gleichwohl man nicht genau weiß, inwieweit diese Fassung wirklich original von Petipa ist“.
Also, Legris´ Version von „Le Corsaire“ ist in der Art eines Baukastenprinzipes zusammengesetzt. Nummer folgt auf Nummer, um all die Ingredienzien der Ballettkunst zu demonstrieren, welche das heutige Publikum mit zirzensischen Effekten in eine erotischer Traumlandschaft zu verführen vermögen. Nun aber x-fach virtuoser ausgeführt. Klar, in dieser Piratengeschichte mit ihren Turbulenzen geht es nur um den Tanz. Klassisch-akademisches Ballett in Reinkultur: Entrée & Variation & Pas de deux & Trio odalisques & Galopp & das Le Jardin animé–Divertissement, stets schön anzusehen und bravourös getanzt. Die Geschichte ist trotz Räuberstory an sich völlig belanglos, bloß Aufputz, lässt den Betrachter aber doch neugierig sein, wie da mit den armen Sklavinnen umgegangen wird und was in der Grotte der Piraten oder im Palast des Paschas noch kommen könnte. Legris hat diese übernommenen Sequenzen mit all diesen Erfahrungen einstudiert, die er in seinem langen Bühnenleben als exzellenter Tanzvirtuose sammeln konnte. So ergibt sich hier, der Tradition des klassischen Schritt- und Ausdrucksvokabulars folgend, eine Mischung russischer wie französischer Stile und Manierismen. Mit vielen Finessen und Bravourstückerln, stimmig dem Ensemble und den Solisten angepasst, welche ihre Parts in der konventionellem, das orientalische Kolorit mit belebtem Basar oder des Seyd Paschas Palast gefällig einfangenden Ausstattung von Luisa Spinatelli technisch auf die feinste Art zelebrieren.
Auch die Musikfolge, vierzig Nummern vom bunten Treiben am Meeresstrand bis zur Apotheose, wirkt wie Stückwerk. Adolphe Adam ist der Komponist der Uraufführung in Paris gewesen. Und später haben sich Cesare Pugni, Riccardo Drigo, Léo Delibes, Peter Prinz von Oldenburg und einige andere Meister schmissiger Ballett-Rhythmen mit ihren Piecen eingenistet. Klingt alles zwar schön altmodisch und harmonisch, kann aber wohl nur gelegentlich Glücksgefühle vermitteln. Adolphe Adams zeitlos poetische „Giselle“ ist da nun wieder im nächtlichen Mondenschein entglitten. Und Dirigent Valery Ovsiankov muss sich an die Sachlage halten, dass das Spektakel mit einer rauhen Schiffsfahrt beginnt und mit einer Unheil bringenden stürmischen See endet und dazwischen so manche Wellen und aufgesetzt wirkende Emotionen recht knallig und pompös aufrauschen.
Eine geistige Komponente drängt sich bei dieser spätbiedermeierlichen Kulturreise nicht auf. Doch schön zum Schauen, sehr schön, ist das Ganze jedenfalls! Getanzt wird ja von all den drei alternierenden Besetzungen und dem Ensemble exzellent. Natürlich, Unterschiede in persönlichen Stärken und Fähigkeiten sind gegeben. Untergegangen ist jedoch niemand von ihnen in dieser Aufführungsserie. Oder doch? Ja, am Ende, in einem aufkommenden Orkan, sinkt das Piratenschiff mit vollen Segeln und all seinen Korsaren. Nur Conrad, der eher sympathische Chefpirat, und Médora, sein entführte und wieder zurück eroberte Geliebte, diese beiden sind von den Meereswogen an den Strand gespült worden. Überglücklich herzen sie sich nun und schwören einander ewige Liebe. Und somit erweist sich diese aus der historischen Mottenkammer ausgegrabene Novität in der Staatsoper nicht als Fehlgriff, sonder für ein Publikum mit Hang zu altehrwürdigem Musiktheater als ein geglückter Schachzug. Ohne König und Dame, doch mit Seeräuber-Pathetik und verführerischem Harems-Zauber.
Meinhard Rüdenauer