WIEN / Konzerthaus: Wiener Philharmoniker bei WIEN MODERN / Péter Eötvös: HALLELUJA, Oratorium Balbulus
(am 23.11. 2016 Karl Masek)
Peter Eötvös. Copyright: Harrison Parrot
Im Gespräch mit Monika Mertl (Essay-Band für „Wien Modern“, Seite 46, ff) erzählt Péter Eötvös, dass er 2008 nach einem szenischen Bartók-Abend („Herzog Blaubarts Burg“) mit den Wiener Philharmonikern einen Kompositionsauftrag mit der Bitte, ein Oratorium zu schreiben, erhalten hat. Er habe seinerseits gebeten, einen Oratorientext von Péter Esterházy (gestorben am 14.7. 2016) schreiben zu lassen. Eötvös spricht in diesem Zusammenhang von einer „Humor-Ebene“, wie sie offenbar nur unter Ungarn möglich ist. Esterházy reflektiert, zwischen Witz und Tiefgang navigierend, Ereignisse wie Sarajevo 1914 sowie das Attentat auf die Twin Towers am 11.9. 2001 und er nimmt, scheinbar prophetisch, schon im Jahr 2010 Ereignisse vom Sommer 2015 vorweg (Er lässt den Narrator kommentieren: „Wir brauchen Grenzen. Wir ziehen überall Zäune, wir umzäunen sogar die Zäune. Innerhalb der Zäune sind wir…“). Kongenial die deutsche Übersetzung von György Buda!
Intention des Komponisten war es, in seinem weltlichen Oratorium ein „Konflikt-Karussell zwischen den handelnden Figuren zu erstellen“.
Ein stotternder Prophet, „der seine Vorhersagungen oft erst dann zu Ende bringt, wenn sie bereits eingetreten sind“. Vorbild der mittelalterliche „Dichter und Mönch Notker von St. Gallen, Vorbild für den stammelnden Propheten im Oratorium Balbulum“ (der finnische Tenor Topi Lehtipuu mit virtuosem Stammel-Sprechgesang).
Ein (weiblicher) Engel mit „verrauchter Stimme, ständig leicht besoffen von Hopfensaft und Nietzsche gleichermaßen“ (die deutsche Mezzosopranistin Iris Vermillon als handfester, bodenständiger Typ mit giftigen,wienerisch angenäherten „Herodias“- Tönen („Gibt es hier keinen Logopäden in diesem bedeutenden Saal? Die Propheten stottern, die Engel lächeln, a scheene Wirtschaft…“)!
Eine Sängerschar, „die durchaus nicht nur Halleluja singen mag“. Der Chor des Ungarischen Rundfunks, Einstudierung: Zoltán Pad, bringt dennoch „Halleluja“-Zitate von Schumann, Händel, schon mal Mozart (Frauen) & Bruckner (Männer) gleichzeitig, Bartók, wenn er eins geschrieben hätte (!) und Mussorgski. Streng und hart, stilistische Vielfalt virtuos meisternd. In Sprüngen durch die verschiedenen Musikepochen. Von Monteverdi bis zu den Beatles.
Schließlich der „Narrator“. Dieser ist ein Schwätzer, der Fragmentarisches dem Publikum vermitteln will. Peter Simonischek trifft mit traumwandlerischer Sicherheit die Sprunghaftigkeit zwischen ernsthaften Aussagen („Der IV. Satz spricht vom Schweigen. Über die Angst. Über die Zukunftslosigkeit…“) und boshaftem Witz.
Die Uraufführung Ende Juli 2016 bei den Salzburger Festspielen dirigierte Daniel Harding. Jetzt, im Konzerthaus, steht der Komponist selbst am Pult: Péter Eötvös. Mit der ihm eigenen Ruhe und Souveränität, vergleichbar nur mit Pierre Boulez in seiner sachbetonten Dirigierweise. Die Wiener Philharmoniker spielen ihr Auftragswerk so, als wollten sie dem Publikum demonstrieren: Seht her, wir WOLLEN auch Musik des 21. Jahrhunderts spielen! Sehr überzeugend!
Den 1. Satz („Adagio“) aus Gustav Mahlers unvollendeter 10. Symphonie , mit der dissonanten neuntönigen Akkordballung und der anschließenden langen Coda, haben die Wiener Philharmoniker 1924 unter Franz Schalk uraufgeführt. Hier geht die persönliche Welt des Komponisten unter. Ein böhmisch-jüdisch-wienerischer Urahne zeitgenössischer Musik geht hier – getreu dem heurigen Wien-Modern-Motto – letzten Dingen auf den Grund.
Leider ein Funken Enttäuschung, als den Philharmonikern am Schluss die Coda zerbröselte und dann gar in einen verzitterten Ton der Piccoloflöte mündete. Doch der a capella-Chor von Arnold Schönberg, “Friede auf Erden“, op.13: Nochmal ein starkes Zehn-Minuten-Statement des Chors des Ungarischen Rundfunks (Gedicht: Conrad Ferdinand Meyer). Ein begeistert akklamierter Abend.
Gratulation an den Künstlerischen Leiter von Wien Modern, Bernhard Günther, für ein fulminant zusammengestelltes Programm der letzten Wochen, das weltweit in solcher Dichte und Vielfalt, spannender Dramaturgie und zahllosen Bezügen zueinander, konkurrenzlos sein dürfte.
Karl Masek
(Der Neue Merker)