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WIEN/ Konzerthaus: Von der Bändigung eines „Monstrums“ – Currentzis und das Utopia Orchester spielen Mahlers 3.

12.06.2023 | Konzert/Liederabende

Von der Bändigung eines „Monstrums“ – Currentzis und das Utopia Orchester spielen Mahlers 3. Im Konzerthaus, Aufführung vom 11.06.2023


Mahlers 3. Gehört zu jenen Werken, die in ihrer Opulenz den Zuhörer nahezu überrollen. Mahler selbst meinte, er wolle „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen“ und sieht schließlich selbst, daß er mit der 3. Ein „Monstrum“ erschaffen hat. Diese Titulierung ist nicht ganz falsch, wenn wir einen Blick auf die Instrumentalisierung dieses gut eineinhalbstündigen Opus werfen: Altsolo, Knaben- und Frauenchor, 2 Pauker mit je 4 Pauken, Unmengen an Schlagwerk 8 Hörner, 5 Klarinetten, 2 Harfen, ein „isoliert platziertes Fernorchester mit Posthorn in B (wie aus der Ferne)“, 6 Glocken „in der Höhe postiert“, etc., etc., etc. Keine Kleinigkeit also, und kein Werk, welches man mal eben so aufführen kann.

Nun schwang sich als Teodor Currentzis an, Mahlers „Monstrum“ zu bändigen. Nicht sein erstes Mal, doch dieses Mal nutzt er als Klangkörper dabei das neue Utopia Orchester, passend im Rahmen des Geburtstages der Symphonie (Uraufführung war am 9. Juni 1902). Und spätestens jetzt werden die üblichen Stimmen wieder schreien, das dies doch so nicht stimme. Es handele sich bei um eine getarnte Fortführung von Currentzis‘ vorherigem Orchester MusicAeterna, welches durch Putins Hausbank VTB finanziert würde. Und ohnehin sei ja Currentzis auch ein Putinist, da er sich niemals von Putin und seinem Überfall auf die Ukraine distanziert habe.

Einmal gilt es also festzuhalten, dass Kunst nicht politisch ist, es sei denn, sie entscheidet sich dezidiert dazu, es sein zu wollen. Die reine Behauptung, dass Kunst immer politisch sei (wie auch alles Private) ist eine unbelegte Prämisse autoritärer Bewegungen, die stets als Faktum postuliert, aber nie belegt wurde oder wird. Sie entbehrt damit also jedweder Richtigkeit und kann getrost ignoriert werden. Dass man insbesondere Currentzis ankreidet, er habe sich nicht zum Ukraine-Krieg geäussert, ist dabei eine besonders absurde Vorgehensweise. Er hat sich mit seinem Schweigen dazu entschieden, nicht dezidiert politisch zu sein. Ihm die Behauptung vorzuhalten, Schweigen sei Zustimmung ist schlichtweg falsch und unredlich. Denn Schweigen ist nun mal nur eines: Schweigen. Dass er darüber hinaus ein Benefiz-Konzert für Ukraine plante (welches aufgrund von politischem Druck aus der Ukraine nicht stattfand) und auch den Hausarrest von Kirill Serebrennikov öffentlich verurteilte, wird dann natürlich lieber ausgeblendet. Schließlich würde das nicht ins Narrativ vom bösen Russen passen (auch wenn Currentzis nun mal Grieche ist). Festzuhalten gilt ebenso: In Utopia spielen 112 Musiker aus 28 Ländern, darunter auch aus der Ukraine. Und insbesondere in dieser Konstellation ist Utopia das beste Sinnbild für das, was Kunst im Allgemeinen und Musik im Besonderen schaffen kann und soll: Menschen zusammenbringen, friedlich vereinen und gemeinsam an etwas Grösserem, nämlich der Kunst arbeiten lassen. Utopia ist somit vielmehr ein Projekt, welches sich schon aus seiner Natur heraus gegen den Krieg stellt und für die Völkerverständigung als solches steht.

Die permanenten Unkenrufe gegen Utopia als Orchester und Currentzis als Dirigent hingegen sind einmal mehr die Auswüchse einer Cancel-Culture, die als solches rundum abzulehnen ist. Sie spaltet die Gesellschaft, beansprucht für sich, das Maß aller Dinge in Fragen der Moralität zu sein und verkennt dabei, dass diese absolutistische Haltung jedweder ethischen Grundlage entbehrt. Wer Cancel-Culture betreibt, ist selbst ein Agressor, stellt sich selbst über andere und versucht andere Ansichten gewaltsam zu unterdrücken. Was auch im Rahmen der Diskussionen um Maestro Currentzis erlebt werden muss, ist exakt jenes Vorgehen, welches George Orwell bereits in seinem Roman 1984 beschrieb: „Jede Aufzeichnung wurde vernichtet oder verfälscht, jedes Buch überholt, jedes Bild übermalt, jedes Denkmal, jede Straße und jedes Gebäude umbenannt, jedes Datum geändert. […] Es gibt nur noch eine Gegenwart, in der die Partei immer Recht behält“.

Wir leben in einer noch immer freien Gesellschaft, in dem es jedem frei steht, ein Konzert zu besuchen oder eben auch nicht. Seine eigene Meinung anderen aufdrängen zu wollen ist schlicht eine Einschränkung der Freiheit des Einzelnen. Die Agiteure, welche Currentzis und Utopia unterdrücken wollen, verkörpern somit selbst jenes Verhalten, welches sie so ankreiden und mittels ihrer Empörung bekämpfen wollen. Kurzum: Cancel-Culture ist autoritär, antidemokratisch und deshalb rundum abzulehnen. Vielmehr sind entsprechende Aggressionen ein Grund mehr, dem Konzert von Utopia beizuwohnen und sich wieder mit dem auseinanderzusetzen, was diese Künstler erzeugen: Kunst!

Also zurück zum eigentlichen Abend. Das Konzerthaus ist ausverkauft, das Geschrei um Currentzis hat mitnichten „genutzt“. Wie bei Utopia üblich kommen zunächst alle Musiker schrittweise auf die Bühne, wenn es das Instrument nicht verbietet, stehen sie alle während des Konzertes. Dann Auftritt Maestro Currentzis, kurzes Innehalten, erster Satz. In voller Pracht beginnen die Hörner mit Mahlers Komposition; der erste Satz bildet das eigentliche Herzstück des Werks, nicht nur da er der mit Abstand längste Satz ist. Er beinhaltet auch eine große Fülle von Motiven, die in den späteren Sätzen wieder aufgenommen werden. Und hier liegt auch die Herausforderung, denn es genügt nicht in entsprechender Lautstärke diese Musik einfach wiederzugeben. Es gilt, die Intentionen Mahlers wirklich zu durchdringen, sich mit jedem Thema auseinanderzusetzen. Anders gesagt, wird das „Monstrum“ im ersten Satz zum Leben erweckt und wütet dann durch die restlichen fünf Sätze. Und hier müssen wir zu Beginn doch feststellen, dass insbesondere im Blech zahlreiche Kratzer zu vernehmen sind, oftmals verglucksen sich diese und spielen einfach nicht präzise. Nun muss fairerweise zugegeben werden, dass eine solche Unsauberkeit bei Blechbläsern in jüngerer Vergangenheit häufiger an den Häusern in Wien festzustellen ist. Im ersten Satz mehren sich allerdings auch nicht sitzende Einsätze und stellenweise scheint es, als bräche das Ensemble in einem Chaos auseinander. Freilich, es sind nur kurze Passagen, aber sie sind da.

In Folge gelingt es Currentzis dann aber sein Orchester wieder einzufangen, das Monstrum scheint also doch noch gebändigt zu werden. Leicht und teilweise heiter schweben die Sätze 2 bis 5 durch den Saal, eine Entspanntheit kommt hier zum Tragen, wie sie fast nicht zu Mahler passen mag und doch logisch, ja fast schon zwingend scheint. Der eigene Klang von Utopia ist dabei fast schon rätselhaft, erzeugt eine Neugierde, sich tiefer in das Werk hineinzuhorchen, sich selbst in den Taumel der 3. Symphonie zu stürzen. Das ist schon etwas sehr Individuelles und Einzigartiges, was dieses Ensemble schafft, wir merken: Hier ist eine künstlerische Vision in ihrer Umsetzung.

Hinzu kommen die ausgezeichneten gesanglichen Leistungen von Wiebke Lehmkuhl die im 4. und 5. Satz mit ihrem majestätischen Alt in der Solo-Partie den Klang ideal unterstützt. Dunkel schillernd und bernsteinfarben schimmert es da und dem ohnehin eindrucksvollen Klang des Utopia Orchesters wird eine zusätzliche, geheimnisvolle Komponente hinzugefügt – wunderschön! Auch die Wiener Sängerknaben und die Damenabteilung der Wiener Singakademie bilden im 5. Satz eine wunderbare Ergänzung: Sie bilden entscheidende Bestandteile des Mikrokosmos, den Mahler mit der 3. aufbaut. Bravi!

Und schließlich der Klimax im 6. Satz zum fulminanten, ekstatischen Finale, welches wiederum das Horn-Thema des 1. Satzes wieder aufgreift und in einer huldigenden Apotheose gipfelt. Nach den vorhergehenden, sanfteren, fast schon lyrischen Sätzen, die das Orchester feingliedrig und einfühlsam zum Klingen bringt, steigern sie sich im Taumel hin zu diesem Finale. Unbändig strömen die Töne, die Violinen stehen breitbeinig auf ihren Podesten, fahren auf diesen Wellen der Musik, welche sich immer weiter nach oben peitschen, werden selbst ein Teil dieser ungezähmten Kraft und bewegen sich in und mit den Wogen der Musik als ein unbändiges Ganzes. Utopia bändigt das Monstrum nicht, das gesamte Orchester wird selbst eines mit dem Monstrum, welches zum Finale nicht mehr bedrohlich wirkt, sondern in seiner Unbändigkeit die reine Kraft der Liebe verströmt. Es entfaltet sich dann ein gewaltiger Applaus, Mahlers Musik ist einfach zu groß, als daß man ihr widerstehen könnte. Schnell steht das Konzerthaus auf den Beinen und feiert Currentzis mitsamt dem Utopia-Orchester mit stehenden Ovationen und zahlreichen Bravo-Rufen.

Was ist nun also das Fazit des Abends?

  1. Teodor Currentzis gehört zu den besten Dirigenten unserer Zeit. Man muss ihn und seinen Stil nicht mögen. Doch wenn es um ekstatische und expressive Momente geht, macht ihm niemand etwas vor. Was dieser Mann aus Musik herauszuholen vermag, ist wirklich beachtlich und es gibt nur ganz wenige die das auch können.
  2. Um Mahlers 3. zu bändigen braucht es mehr als nur einen außergewöhnlichen Dirigenten. Es braucht auch ebenso außergewöhnliche Musiker. Und im 1. Satz mussten wir dann doch feststellen, daß es bei Utopia nicht an Qualität, aber vielleicht doch noch ein wenig an Reife fehlt. Die Zerrissenheit, welche Mahler in der 3. bearbeitet bedarf wohl doch einiges an Lebens- und Musiziererfahrung und das Utopia-Orchester besteht auch aus zahlreichen, noch sehr jungen Musikern. Deren Qualität ist da, so dass sicherlich diese Reife in Zukunft vorhanden sein wird. Diese Entwicklung weiterzuverfolgen, wird hochgradig spannend und lehrreich sein.
  3. Das Wiener Publikum war der eigentliche Wermutstropfen des Abends. Bereits bei Betreten des Saals hatten wir den Eindruck, daß zahlreiche Besucher es nicht für nötig hielten, sich zu duschen. Da man ohnehin schon seit Jahren keinerlei Kleiderordnungen mehr in den Wiener Kulturstätten festlegt, war dann auch das eine oder andere Outfit dabei, welches der Verströmung der sehr speziellen olfaktorischen Eindrücke noch Aufschub gab. Nach dem 1. Satz gab es dann doch einige Besucher, die dachten, jetzt sei der Zeitpunkt loszujubeln. Da kann man nur noch peinlich berührt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Und noch vor dem Verklingen des letzten Tons des 6. Satzes schrie jemand hinein „Bravo Currentzis“. Dass man damit jede magische Stimmung vollends zerstört und eigentlich auch den Künstlern keinen Gefallen tut, scheint da nicht bewusst zu sein. Auch zeugt dies von mangelndem Respekt vor den Mitmenschen, den Künstlern und der Kunst selbst. Da ist es schon fast ironisch, wenn Mahler selbst über die Erstellung des ersten Satzes jene beschreibt, die der Held seiner Symphonie dann erfolgreich bekämpfen soll: „Ein Gesindel treibt sich da herum, wie man es sonst nicht zu sehen kriegt“. Ganz so drastisch ist es dann zum Glück doch noch nicht, Besserung ist hier allerdings dringend nötig.

Das Konzert wurde im Nachgang als das letzte von Currentzis in Wien tituliert, da neue Auftritte aufgrund des Krieges in der Ukraine für absehbare Zeit nicht geplant seien. Auch hier scheint man dem Druck der Straße, der Cancel-Culture nachzugeben. Auch hier entzieht man bedeutende Künstler dem Kulturstandort Wien, welcher immer weiter in die Provinzialität abzurutschen droht. Städte wie Berlin oder Brescia werden sich freuen. Im Juli und August spielen Currentzis und Utopia in Salzburg.

E.A.L.

 

 

 

 

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