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WIEN / Konzerthaus: Matthäuspassion

Ein ins Transzendentale verweisendes Drama als Labsal für Herz und Seele

19.03.2024 | Konzert/Liederabende
passion24

Matthew Halls (Dirigent). Foto: Wiener Konzerthaus / Benjamin Ealovega

WIEN / Konzerthaus: MATTHÄUSPASSION

17. März 2024

Von Manfred A. Schmid

Als Johann Sebastian Bachs erschütterndes Monumentalwerk am Karfreitag des Jahres 1727 zum ersten Mal in der Leipziger Nicolaikirche erklang, werden die frommen Gläubigen kaum geahnt haben, der Aufführung des wohl eindrucksvollsten geistlichen Werks der Musikgeschichte beizuwohnen. Sie werden sich aber vermutlich über die ungewohnte Länge von mehr als dreieinhalb Stunden gewundert haben wie auch darüber, dass sie bei den eingestreuten Chorälen nicht, wie gewohnt, zum Mitsingen eingeladen waren, weil deren vierstimmige Fassungen ihre Fähigkeiten  bei Weitem überfordert hätten: Allein die wiederkehrend eingesetzte Melodie zu „Ein Haupt voll Blut und Wunden“ ist jedes Mal, zu anderen Texten, etwas anders gesetzt. Die argwöhnischen Herren Stadträte hinwiederum werden argwöhnisch darauf geachtet haben, ob der Herr Thomaskantor Bach in das liturgische Werk nicht zu „opernhafftige“ Tendenzen eingeführt, die Zuhörer so von der erwarteten Andacht abgelenkt und damit gegen seinen von ihm unterfertigten Auftrag verstoßen habe, der Erbauung und nicht der Ergötzung zu dienen. Zweifel dürften ihnen jedenfalls mehrmals gekommen sein, denn mit der Matthäuspassion hat er wahres Neuland betreten. Schon der Umstand, dass er zwei Chöre und zwei Orchester benötigte, war eine Tat, die durchaus mit Beethovens Innovationen in dessen Neunter Symphonie vergleichbar ist.

Bachs Karfreitagsmusik wurde in weiterer Folge mehrmals wiederholt, geriet aber nach Bachs Tod fast ein Jahrhundert lang in Vergessenheit. Erst die Wiederaufführung im April 1829 durch Felix Mendelssohn-Bartholdy, mit der Berliner Singakademie, begründet die große „Bach-Renaissance“, die bis heute ungebrochen ist: Am Wiener Konzerthaus, und damit für viele Musikliebhaber, gehört die Matthäuspassion, wie auch das Bühnenweihespiel Parsifal am Gründonnerstag an der Staatsoper, zu den liebgewonnenen vorösterlichen Gepflogenheiten und wird an diesem Haus heuer, wie dem Programmheft zu entnehmen ist, zum 93. Mal und ausverkauft, aufgeführt. Diese ungebrochene Tradition in einer Zeit, in der die christlichen Kirchen mit einem anhaltenden Schwund an Gläubigen konfrontiert sind, bestätigt Mauricio Kagels Meinung: „Nicht alle Musiker glauben an Gott, aber alle glauben an Johann Sebastian Bach.“ Das gilt gewiss auch für so manchen Musikliebhaber.

Die Matthäuspassion ist eine Herausforderung für Orchester, Chor und Solisten und bedarf wegen der schon erwähnten Verdopplung der Klangköper nicht nur großer, sondern auch höchst vielseitiger Ensembles. Die Wiener Symphoniker sind bekanntlich kein sich der historischen Aufführungspraxis widmendes Orchester. Da aber der Dirigent Matthew Hall vom Originalklang-Papst Nikolaus Harnoncourt sehr geschätzt und protegiert wurde und auch Aufführungen von dessen Concentus Musicus leiten durfte, ist es nicht verwunderlich, dass in die fokussierte Gestaltung unter Halls Leitung auch Erkenntnisse aus dieser Richtung einfließen. Die Verknüpfung von narrativem Drama mit Passagen hingebungsvoller Reflexion gelingt vorbildlich. Dass dabei auch die in der Originalbesetzung vorgesehene Viola da gamba, ausdrucksstark und expressiv gespielt von Rebeka Rusó, zum Einsatz kommt, ist dann fast schon eine Selbstverständlichkeit.

Großartig bewährt sich die von Heinz Ferlesch einstudierte Wiener Singakademie, aus deren Mitte einige Sängerinnen und Sänger auch in Nebenrollen solistisch, u.a. als Pilatus, Mägde, Petrus, Judas und Hohepriester, zum Einsatz kommen. Phrasierung und Dynamik erweisen sich als überaus abwechslungsreich und lassen sowohl die elektrisierenden Momente im erregenden Sturmchor und beim Verrat des Judas, wie auch die zarten Passagen angesichts des Todes Jesu voll zur Wirkung kommen.

Die vier Solisten der insgesamt neun großen Arien, Sophie Junker (Sopran), Laurence Kilsby (Tenor) Samuel Hasselthorn (Bariton) sowie der junge Hugh Cutting, der sich als Countertenor als eine wahre Entdeckung entpuppt, singen mit Inbrunst und ernsthafter Verinnerlichung, ohne je in den  Verdacht von Frömmelei zu geraten. Sie bei ihren Arien jeweils von herausragenden Instrumentalsolisten auf der Geige, auf Flöten und der bereits erwähnten Gamba höchst anmutig begleitet.

Nach anfänglicher Textundeutlichkeit in den hohen Passagen präsentiert sich der Tenor Stuart Jackson, Einspringer für den in dieser Rolle vorgesehenen, geradezu ikonischen britischen Tenor Robin Tritschler, als eine mehr als zufriedenstellende Wahl. Der Bariton Manuel Walser als sanfter, würdiger Jesus, komplettiert die exzellente Riege der Sänger, kann in den Augenblicken höchster Verzweiflung und Todesangst aber durchaus auch menschlich angerührt reagieren und expressive Töne anschlagen.

Das Publikum ist so gepackt vom Dargebotenen, dass es nach dem letzten Ton des Schlusschores „Ruhe sanfte, sanfte ruh!“ noch eine Weile in Stille verharrt, dann aber ergriffen und begeistert applaudiert und mit Dank auf ein Konzert reagiert, das sich vom Gewohnten deutlich abhebt und wohl einen besonderen, ins Transzendentale weisenden Stellenwert einnimmt.

 

 

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