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WIEN/ Konzerthaus: MARIINSKY-ORCHESTRA unter Gergiev (Tschaikowsky)

Flatterfinger & Lautstärke-Exzesse

13.01.2019 | Konzert/Liederabende

WIEN/Konzerthaus: Mariinsky Orchestra/Valery Gergiev

Flatterfinger & Lautstärke-Exzesse

12.1. 2018 (Karl Masek)

Eine „Intensiv-Residenz“ des Mariinsky Orchesters St. Petersburg hat das Konzerthaus angekündigt. Drei Abende – alle sechs Symphonien von Peter Iljitsch Tschaikowsky. Mein persönlicher Favorit dabei: Die Symphonie Nr.1 g-moll op.13 „Winterträume“ veranlasst mich, das erste der drei Konzerte zu besuchen. Sehr zu Unrecht wenig gespielt ist dieser hochinspirierte, gekonnt instrumentierte, die Themen und Motive originell verarbeitende und geradezu melodienselige  „Traum von einer Winterreise“, den der 28-Jährige in Musik gesetzt hat. Eine abwechslungsreiche Reise durch Klanglandschaften, mit intensiver „Dialog-Rhetorik“ der Reiseteilnehmer im Orchester. Da kommuniziert die Flöte mit der Klarinette und dem Fagott, dort beginnt die Oboe ein neues „Gesprächsthema“, die Bratschen setzen es fort, die Hörner beenden es schließlich.

Oder der zweite Satz („Adagio cantabile, ma non tanto“   –  „Land der Öde, Land der Nebel“ –) mit hymnischen Streichern, wiewohl mit Dämpfer, das Hauptthema schält sich gleichsam aus der Nebellandschaft. Das elegische Volksliedthema, das im Orchester wie bei einer Ball-Staffette weiter gereicht wird, kommt in Mussorgskis Meisterwerk „Chowanschtschina“ bei der Stelle, wo Fürst Golyzin in die Verbannung gehen muss, wieder. Im symphonischen Walzer des dritten Satzes lassen sich wiederum  die deutlich später entstandenen Ballettkompositionen Tschaikowskys erahnen.

Vorfreude, dieses Werk endlich einmal live zu hören. Umso enttäuschender dann dieses Live-Erlebnis!  „Allegro tranquilloist der Stirnsatz der „Ersten“ überschrieben. Das sollte doch suggerieren, es ist ein rasches, aber dabei ruhiges Tempo, und die abwechslungsreichen Träume gleiten angenehm vorbei. Hier bekam man aber sehr schnell den Eindruck, es handle sich um höchst gestresste Reiseteilnehmer – am allergestresstesten der Reiseleiter am Pult. Verbissen, freudlos, geht es da zur Sache. Alles ist eher Alp- als Traum. Der Reiseleiter hat den Kopf viel zu oft in den Reiseunterlagen (der Partitur) vergraben, Kommunikation mit den Reisenden (dem Orchester) findet nur rudimentär statt. Alles unter Starkstrom, aber es klingt pauschal, „dampfwalzig“, uninspiriert abgespult, ohne Nuancen, ohne Emotion.

Valery Gergiev leitet das Mariinsky Orchestra seit 1988. Der erste Blick ins mehrheitlich ziemlich junge Orchester lässt vermuten: die meisten  kennen nur Gergiev als ihren Orchesterchef, und vieles läuft sozusagen mit blindem Einverständnis ab. Sie sind offensichtlich mit Gergievs permanenten Dirigier-Flatterbewegungen der Hände vertraut, man hat als Außenstehender mitunter sogar das Gefühl, es werde voraus gespielt, was der Mann am Pult hinterher dirigiert! Als Zuhörender weiß ich einen Abend lang nicht: Was soll das immer gleiche Geflatter? Will er ein crescendo, will er ein decrescendo, will er eine bestimmte Phrasierung, will er an der Struktur, an den Orchesterfarben etwas korrigieren,…?

Mein Platz am Orgelbalkon ist da unbarmherzig. Man sieht den Dirigenten von vorne und ist praktisch im Orchestergeschehen. Man sieht Mimik, Gestik, dirigentische Körpersprache ganz von der Nähe. Der Gesamteindruck eines, der eine Mauer zwischen sich und dem Orchester aufzubauen scheint. Man flüchtet bald blicktechnisch zu den Musikergruppen. Die spielen mit undurchdringlichen Mienen. In deren Körpersprache findet sich ebenfalls nichts Freudvolles, so als würde ein Routineabend eines ständig auf Tournee befindlichen Kollektivs, bar aller Nuancen, abgespult. Tournee-Müdigkeit, mit dickem Kompaktklang kompensiert?

Relativ lauer Applaus zur Pause.

Besser wird es auch nachher bei der Symphonie Nr. 6 h-moll op. 74  „Pathétique“ nicht. Der Starkstrom-Stress lässt nicht nach, im Gegenteil, dazu kommen Lautstärke-Exzesse, zu Beginn der Durchführung des Stirnsatzes  schrammt man am Rande eines Knall-Traumas. Tempoextreme von rastlosem Umherirren bis zum Fast-Stillstand. Der russische Walzerrhythmus im 5/4-Takt des  „Allegro con  grazia“ entbehrt jeglicher Eleganz, der Geschwindmarsch des 3. Satzes macht Dresch-Effekt (das Becken wird zur Tschinelle, die richtiggehend Ohrfeigen verpasst). Die älteren  Wiener kennen noch den Dialekt-Ausdruck für „beidseitige Ohrfeige“.

 Beim attaca weiter geführten „Adagio lamentoso“ (nicht eine Sekunde Atempause wird dem Orchester gegönnt, das Publikum hätte ja hinein applaudieren können!)  ist mein Blick nur mehr bei den Orchestersolisten. Sie tun, was sie können. Natürlich, Fagott, Klarinette, die tiefen Streicher, sie alle haben dunklen, schweren  Samt wie die Einrichtung in alten russischen Salons. Hier immerhin die Momente der tiefen Depression, der allumfassenden Melancholie.

Irritierend, aber auch bezeichnend, schon der Beginn. Von Gergiev heißt es dem Vernehmen nach, er tauche oft erst unmittelbar vor einem Konzert oder einer Opernvorstellung auf. Oder sogar viel später. Ein berühmtes Beispiel war das spektakuläre Einspringen des damaligen Gergiev-Assistenten Michael Güttler in Paris für eine „Lohengrin“-Vorstellung. Da war der Maestro eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung … noch in Petersburg! Um 19:15 war der Konzerthaussaal immer noch nicht für den Eintritt freigegeben – Akustikprobe im letzten Moment? 19:40: Das Orchester ist immer noch nicht auf dem Podium (War Gergiev schon da?). Demonstrativer Applaus setzt ein, das Orchester kommt ebenso demonstrativ langsam aufs Podium. Auch nach dem obligaten Stimmen allgemeines Warten auf den Pultstar … Um 19:47 geht es endlich los …

Ob eine Zugabe gespielt wurde, wollte ich nicht abwarten.

Karl Masek

 

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