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WIEN/ Konzerthaus: Klangliche Pracht des Barocks: Jakub Józef Orliński, Fatma Said & Il Giardino d’Amore

04.03.2024 | Konzert/Liederabende

 

Klangliche Pracht des Barocks: Jakub Józef Orliński, Fatma Said & Il Giardino d’Amore im Wiener Konzerthaus, Vorstellung vom 02.03.2024

Wer ist Jakub Józef Orliński? Zunächst ein außerordentlich talentierter Countertenor, der seinen Master of Vocal Performance an der Fryderyk-Chopin-Universität für Musik in Warschau absolviert hat. Dreifacher Gewinner des OPUS Klassik International Classical Music Award, Grammy-Nominierter, Gewinner des International Opera Awards 2021 in der Kategorie Recording (Solorecital), sowie des International Classical Music Award 2022 in der Kategorie Baroque Vocal. Und hier reden wir von einem einzigen Mann, der gerade einmal 33 Jahre alt ist.

Dieses junge Genie ist überzeugt davon, dass man hart arbeiten muss, um sein Glück zu finden, tanzt nebenbei noch Breakdance (und wärmt sich mit diesem auch gerne auf), verzeichnet beeindruckende 204.000 Follower auf Instagram und managt seine Social-Media-Plattformen selbst. Seine Bekanntheit erreichte erstmals schwindelerregende Höhen, als er Vedrò con mio diletto aus dem ersten Akt von Vivaldis Oper Il Giustino (die übrigens epische 4,5 Stunden dauert) für eine Radioaufnahme vortrug, die am 8. Juli 2017 beim Festival von Aix-en-Provence aufgezeichnet wurde. Als diese Radioaufnahme gemacht wurde, konnte Herr Orliński nicht ahnen, dass er bei diesem inoffiziellen Auftritt, bei welchem er wetterbedingt mit kariertem Hemd und kurzen Hosen bekleidet war, auch auf Video aufgezeichnet wurde und sich dieses Video zu einem regelrechten Hit entwickeln würde. Heute, am 2. März 2024, zählt dies Youtube-Video unglaubliche 11 (!) Millionen Aufrufe und verursacht nach sechs Jahren immer noch Gänsehaut. Seine engelsgleiche, zarte und kristallin wirkende Stimme wirkt dabei immer wieder neu und unentdeckt.

Vedrò con mio diletto ist eine barocke Arie in h-Moll, die die Liebe des byzantinischen Kaisers Anastasius zu seiner entführten Frau Ariadne thematisiert. Dieses Musikwerk, durchtränkt von leuchtender Traurigkeit und schimmernder Melancholie, hat ebenfalls die Fähigkeit bei jedem erneuten Hören die eigene Gefühlswelt tief zu berühren – wenn sie denn richtig gesungen wird. Die Herausforderung, diese Arie nach der Barockkönigin Cecilia Bartoli und dem französischen Countertenor Philippe Jaroussky ebenfalls einzuspielen, hat Herr Orliński bereits im Alter von 27 mit Bravour gemeistert. Die hohe B-Note in der Mitte des Stücks durchdringt dabei die Luft, als würde ein funkelnder Kristallleuchter im Herzen des Zuhörers emporsteigen, nur um dann in unzählige Scherben der Trauer zu zerfallen. Dass die gesanglich dargestellte Trauer beim Zuhörer tatsächlich wonnigste Glücksgefühle auslösen kann, ist dabei das Faszinosum das Vivaldis Musik ausmacht und auch das Können Herrn Orlińskis eindrucksvoll unter Beweis stellt.

Nun waren Jakub Orliński und die ägyptische Sopranistin Fatma Said zusammen mit dem Orchester Il Giardino d’Amore im Wiener Konzerthaus zu hören. Il Giardino d’Amore ist ein relativ junges Orchester, das 2012 vom Geiger und Dirigenten Stefan Plewniak während des Krakauer Bachfestes gegründet wurde. Von der Philosophie der Orchestermitglieder inspiriert, entschlossen sie sich zu einem erlesenen Zirkel, „um Musik mit einer tiefen, freudigen und ausdrucksstarken Sensibilität zu teilen, vergleichbar mit einem geheimen Garten, geleitet von der Liebe zur Kunst und der Liebe zueinander“. Auf dem Programm des Abends standen Giovanni Battista Pergolesis Stabat Mater, sowie ausgewählte Arien von Antonio Vivaldi und Georg Friedrich Händel.

Pergolesi komponierte sein Stabat Mater im Alter von 26 Jahren kurz vor seinem Tod im Jahr 1736. Der Legende nach war der Komponist in ein junges neapolitanisches Mädchen verliebt, dessen Eltern gegen ihre Beziehung waren und das Mädchen in ein Kloster schickten, wo sie von der Schwindsucht dahingerafft wurde. Auch Pergolesi erkrankte und verließ die geschäftige Stadt Neapel, um bis zu seinem Tod am Stabat Mater zu arbeiten, wobei er seine Liebesleiden und die Qualen der Krankheit, die ihn auffraß, in seiner Musik verarbeitete. Von den ersten Tönen an werden wir von Schwermut und persönlichem Leid ergriffen, die das Werk durchdringen. Dieses komplexe Musikstück fordert die Solisten wahrlich heraus und schnell erkennen wir, wie besonders und gekonnt die Stimmen von Jakub Orliński und Fatma Said sind, die die emotionale Tiefe und Majestät des Stabat Mater offenbaren.

Trotz der enormen Trauer, die sich im Werk widerspiegelt, ist die Reaktion der Zuschauer bereits beim Stabat Mater beeindruckend: Viele Lächeln, einige falten ihre Handflächen in einer betenden Geste, andere vergießen heimlich eine Träne, wieder andere schließen einfach die Augen und verlieren sich ganz in der Musik, die so rein und fremdartig ist, dass sie gleichzeitig Gefühle von Schmerz und Erleuchtung hervorruft. Orliński kann hier sowohl eine wunderbare Phrasierung als auch sein Markenzeichen, hohe, reine Töne und eine erstaunliche Rundheit des Klangs demonstrieren. Seine atemberaubende Stimmbeherrschung erzeugt einen einerseits feinen als auch fülligen Klang, dessen Dichte den gesamten Saal aus- und erfüllt. Er ist völlig in sich selbst versunken, in einer ganz anderen Welt, als dränge seine Stimme aus dieser Ferne an unsere Ohren, aus dem Jahr 1735 als schneidend reiner Schmerz von klanglicher Jungfräulichkeit.

Den zweiten Teil des Abends nennt Herr Orliński selbst einen „Karneval“ barocker Arien. In diesem Abschnitt präsentiert der junge Sänger die Arien Händels mit spielerischer Leichtigkeit, erinnernd an lustig leichte Pop-Melodien, nur eben in der Komplexität des Barockklangs. Er singt in seinem Element und verschmilzt regelrecht mit der Energie des Orchesters. Zahlreiche Mitglieder des Orchesters spielen stehend, ihre Körper folgen dem Rhythmus der Musik und vereinen sich zu einer harmonischen Einheit.

Farnaces herzzerreißende Arie Gelido ogni vena aus Antonio Vivaldis gleichnamiger Oper wird dabei zu einem weiteren Höhepunkt des Abends. Diese Arie, durchdrungen von der Phrase „gelido ogni vena“, vermittelt die schockierende Erkenntnis eines Vaters um den Tod des eigenen Sohnes. Der Klang der Musik dringt wie ein Strom kalter Luft in uns ein, eiskalt gefriert unser Blut in jeder Ader.  Diese musikalische Linie öffnet die Tür zu einer Welt der emotionalen Intensität und menschlichen Tragödie.

Aus dem Munde Fatma Saids klingt diese Arie so zauberhaft, denn jeder Ton, jedes Einatmen, jede Pause in dieser meisterhaften Interpretation ist so bemessen, dass nichts hinzugefügt oder weggenommen werden kann und alles zu einer süßlich leidenschaftlichen Qual wird. In den klagenden Noten ihrer Stimme wird die tiefe Verzweiflung und das unermessliche Leid von Farnace spürbar. Mit ihrer inspirierten Darbietung gelingt es der jungen Sopranistin, dem Zuhörer in jeder Note ein Gefühl von Kälte und Schmerz zu vermitteln und eine ergreifende Atmosphäre zu schaffen.

…Mit erhebendem Gesang füllt Sento in seno ch`in pioggia den Raum, die Stimme Herrn Orlińskis umhüllt das Publikum und wir sind in der Lage, jeden Ton genau zu spüren – kleine Schauer jagen über unseren Rücken, zerren an den Sehnen des Herzens und wecken Gefühle von unerklärlicher Tiefe, voll von ausdrucksstarker Schönheit und gefühlsbetonter Wahrheit. Niemand atmet, Herr Orliński und die Musiker, die pizzicato spielen, sind vollständig eins mit uns als Zuhörern, keine Bewegung ist bemerkbar, nichts soll diesen Moment der Sinnlichkeit zerstören. In verschiedensten Positionen wird nun musiziert, im Stehen, im Sitzen, im Liegen, und doch hat dies keinerlei Einfluss auf Herr Orlińskis Stimme. Und das ist das Erstaunliche an seinem Talent – dass er am Flughafen, im Radio, auf Youtube, in der Kirche, im Stehen, im Sitzen, im Liegen singen kann – seine Stimme scheint vollkommen unberührt davon zu sein!

Der besondere Klang Il Giardino d’Amores manifestiert sich insbesondere in der energetischen Person ihres Leiters und Geigers Stefan Plewniak. In seiner schwarzen, an einen Priester erinnernden Kutte, scheint er eine besondere Macht über das Orchester ausüben zu können und diesen besonderen Klang zu erzeugen, der so klingt, wie man sich den Klang des Barocks vorstellt. Dieser gewisse Zauber, der an eine Mischung vom Staub opulenter Krinolinen, venezianischer Gondeln, flackernder Kerzen und alter Vergoldungen erinnert. Diese Opulenz und Virtuosität vermittelt das Orchester sowohl im Concerto a-moll RV 522 als auch im Concerto D-Dur RV 208, und es ist, als ob in jeder Note Magie erblüht, verwoben mit brillanten Geigenmelodien und funkelnden Farbklängen, die eine Brücke zwischen den Illusionen von Zeit und Raum zu schlagen scheinen.

So endet eine großartige musikalische Reise, deren Zauber auch danach noch lange spürbar bleibt, bereit, den nächsten Akkord in der Sinfonie des Lebens zum Leben zu erwecken. Es scheint, als stünden wir erst am Anfang eines außergewöhnlichen musikalischen Abenteuers von Jakub Józef Orliński und Fatma Said, bei dem jede ihrer Noten eine Gelegenheit ist, erneut in eine Welt voller Wunder und Virtuosität einzutauchen. Wie Henri-Frédéric Amiel einmal sagte: “Leicht tun können, was schwierig ist für andere – das ist Talent; tun können, was für das Talent unmöglich ist – das ist Genie”. Als nach langer Zeit der letzte Applaus verhallt, verlassen Musiker und Zuhörer, eingehüllt in eine Atmosphäre der Bewunderung, das Konzerthaus mit einem Lächeln der Dankbarkeit und denken an das Wunder des Talents und das Geheimnis der Genialität dessen, was sie heute gehört und gesehen haben.

Darina Leuer

 

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