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WIEN/ Konzerthaus „CASINO CAGE“ / „BERIO SEQUENZE“ bei Wien Modern

Eine räumliche, durch Zufallsprozesse gesteuerte Simultanaufführung

06.11.2018 | Konzert/Liederabende


Luciano Berio. Copyright: Eric Marinitsch

WIEN /  Konzerthaus: „CASINO CAGE“ / „BERIO SEQUENZE“ bei Wien Modern – Eine räumliche, durch Zufallsprozesse gesteuerte Simultanaufführung

5.11. 2018 – Karl Masek

Ein Croupier der Casinos Austria spielt eine tragende Rolle an diesem Abend. Am Roulette-Tisch lässt er im ausgeräumten großen Konzerthaussaal die rollende Kugel über Zeitpunkt, Reihenfolge und Gleichzeitigkeit der Interpretationen entscheiden. Ganz im Sinne des John Cage, des Großmeisters des Zufallsprinzips. Typisch dafür seine „Variations IV for any numbers of players, any sounds or  combinations of sounds produced by any means, with or without other activities (1963)“…

Man kann also live sehen und fühlen, wie der Zufall eingreift bei dieser Gesamtaufführung der 14-teiligen Sequenza-Werkreihe von Luciano Berio (1925-2003). Vier Orte im Konzerthaus stehen für dieses „Wanderkonzert“ zur Verfügung; Der Große Konzerthaussaal, der Schubert-Saal, das Buffet des Schubert-Saales und das Foyer.

Zwischen 1958 und 2002, also fast sein gesamtes Berufsleben hindurch, komponierte Luciano Berio für 14 verschiedene Soloinstrumente mit dem Titel Sequenza, die er einigen der größten Virtuosen des 20.Jhts widmete.

14 Studentinnen und Studenten der MUK Privatuniversität präsentierten nach monatelanger und akribischer Vorarbeit die „…vielstimmigen Solos des italienischen Komponisten, …, der hautnah spüren lässt, warum bei Musik von ‚spielen‘ die Rede ist…“, so Wien Modern im Programm-Abreißkalender.

Eine ganz besondere Herausforderung für die jungen Instrumentalist/innen, die sie – das sei gleich vorweg genommen – allesamt bravourös meisterten!  Berio erweitert in seinen Solokompositionen die Klang- und Ausdrucksmittel des jeweiligen Instrumentes zu einer bisher nicht für möglich gehaltenen Palette, treibt sie auf die Spitze. Wobei ich besonders betonen möchte, dass Berio allen Instrumenten „die eigene Mentalität“, „das ihnen innewohnende Temperament“ nicht nur belässt, sondern  in seismographischer Sensibilität sogar besonders herausstreicht. Etwas, das ich in dieser Intensität sonst nur aus den vielfältigen Solowerken von Benjamin Britten kenne.

Vergangene, gegenwärtige und zukünftige Violin-Techniken gehen beispielsweise in der Sequenza VIII in einer Hommage an Bachs berühmte Chaconne eine glückhafte Verbindung ein (Amia Janicki, * 1997 in Genf, sie spielt auf einer Amati-Geige von 1645, eine Leihgabe).

Die Sequenza VI für Viola wiederum ist ein Stück großer Virtuosität für die Bratsche, eine indirekte Hommage an Paganinis Caprici, wie Berio in seinen instruktiven Werkeinführungen beschreibt. Die Wienerin Flora Marlene Geißelbrecht (* 1994) leitete nach dem Willen Cages und der Roulette-Kugel den Abend im Großen Saal mit kraftvollem Zugriff ein.

In Berios Nachbarschaft in Oneglia lebte ein damals berühmter Clown: „Grock“ (1880-1959), der den 11-Jährigen faszinierte – auch weil er 15 Instrumente virtuos beherrschte und überdies komponierte. Die leitmotivische Frage „WARUUUM?“ bei den Auftritten des Clowns  hat auch Platz in der Sequenza V für Posaune. Der 1991 in Freising bei München geborene Valentin Guenther, als Clown geschminkt, ließ nicht nur „Grock“ (samt Frage-Markenzeichen) wieder auferstehen, sondern faszinierte mit der simultanen Behandlung Posaune/menschliche Stimme, was bisher un-erhörte Posaunenkoloraturen hervorbrachte.

Ein besonderer Höhepunkt die Sequenza XI für Gitarre. Ein Dorado für jeden Spieler dieses Instruments! Herrlich mit allen gitarristischen Effekten wie vielgestaltigem „Rasgueado“, der besonderen Anschlagstechnik der zerlegten Akkorde, wie sie dem Flamenco immanent sind. Auch hier durchaus ein kleiner Blick zurück, wenn man vermeint, da grüßt von weiter Ferne Manuel de Falla. Man spürte, ein Lieblingsinstrument Luciano Berios! Der junge Slowene  Simon Roguljić (* 1995) hielt das Publikum 21 Minuten in Bann – da ging kaum jemand weiter (Auch ich blieb, was dazu führte, dass ich Violoncello, Trompete und Akkordeon verpasste)!

Die Sequenza III ist für Frauenstimme (1965) geschrieben und Berios damaliger Lebenspartnerin Cathy Berberian gewidmet. Sie galt damals als die einzige, die derlei Avantgarde-Musik kongenial interpretierte und die vertracktesten technischen Finessen virtuos beherrschte. Sie hat eine Nachfolgerin auf Augenhöhe, wie man im Foyer bestaunen konnte: Anna Overbeck. Die 22-Jährige beleuchtete alle Aspekte dieses „Essays von der Beziehung zwischen der Solistin und ihrer eigenen Stimme“, wie das Berio selbst einmal ausdrückte. Mit grandioser Stimmbeherrschung!

Eine Kurzhymne für die anderen Interpret/innen: Nikol Henter (* 1994, Budapest – Sequenza I , Flöte mit schillernder Farbigkeit ); Veronica Klavzar (* 1995, Bruneck – Sequenza II, Harfe, es klang „wie ein Wald, durch den der Wind bläst“); Petar Kostov (* 1994, Plovdiv – Sequenza IV, Klavier mit gläserner Kühle); Claire Colombo (die Italienerin spielte schon in der Jungen Philharmonie und dem Jeunesse Orchester Wien – Sequenza VII, Oboe mit toller Überblase-Technik; Daniel Miguel Tena Cortell (Klarinette mit dem sanften Temperament der tiefen Lagen); Christian Walcher (* 1994, Graz – mit einer Meditation für das Fagott unter schnellem Wechsel ferner Register).

Ein Konzertformat, ein „Casino-Besuch“, bei dem es in wundersamer Weise  n u r  Gewinner gab! Ich ging  b e r e i c h e r t  nach Hause. Gelassenheit dem Jahresmotto gegenüber, die mir nach dem Abbado-Gedenkkonzert beinahe abhandengekommen war, kehrte zurück.

Gratulation an Wien Modern, Gratulation an das MUK!

Karl Masek

 

 

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