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WIEN/ Kammeroper: HÄNSEL UND GRETEL

04.06.2016 | Oper

Kammeroper Wien Hänsel und Gretel 3.6. 2016 (Premiere am 12.5.2016)

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Gretel (Viktorija Bakan) und Hänsel (Jake Arditti). Copyright: Herwig Prammer/ Kammeroper

Es ist immer von Vorteil, wenn man eine von der Presse so unterschiedlich aufgenommene Produktion einer eigenen Beurteilung unterzieht. Zunächst überrascht einmal die für die Kammeroper erstellte Fassung der deutschen Komponistin Helga Pogatschar, die konsequent das riesige „Wagnerorchester“ Humperdincks, unter völligem Verzicht auf Violinen, auf 11 Instrumente reduziert. Übrig bleiben ein Violoncello, ein Kontrabass, Klavier, Celesta, Harmonium, Akkordeon, Gitarre, Hackbrett, Blockflöte, Klarinette und Schlagzeug. Vinzenz Praxmarer sorgte am Pult des Wiener KammerOrchesters für eine spannungsreiche Umsetzung der vom romantischen Kitsch befreiten Musik Humperdincks. Diese in musikalischer Hinsicht äußerst interessante Version kam aber letztlich auch dem Konzept der Regisseurin Christiane Lutz entgegen. Nachdem ja die Wiener Staatsoper und die Volksoper zwei konventionelle Produktionen von „Hänsel und Gretel“ auf dem Spielplan haben, bot sich die Gelegenheit, einmal ausgelatschte Regiepfade zu verlassen und eine intellektuell herausfordernde Sicht auf das Werk zu werfen. Die Regisseurin will kein bitterböses Märchen der Gebrüder Grimm mit erhobenem Zeigefinger nacherzählen, sondern blickt in die seelischen Tiefen heranwachsender Jugendlicher, die das Vertrauen gegenüber ihren Eltern verloren haben. Aus der Tristesse von hausierenden Staubsaugervertretern suchen diese auszubrechen und durch Bankeinbrüche zu unrechtmäßig erworbenem Wohlstand zu gelangen. Die Kinder stören dabei und werden von der Mutter – als Vorwand – zum Beerenpflücken in den Wald geschickt. Aber die beiden aufgeweckten Kinder wollen hinter das Doppelleben ihrer Eltern blicken. Sie dringen in den bereits vom Vater mit zwei Helfern gegrabenen Tunnel ein. Dort werden sie entdeckt und mit Äther betäubt (im Original das Sandmännchen). Das Traummännchen singt aus dem Off während die beiden Kinder sich im Traum in einer Boutique wiederfinden und Gretel teure Abendroben anlegt. Als sie wieder erwachen finden sie sich im Inneren einer Bank, genauer gesagt vor dem verschlossenen Gittertor zum Tresorraum. Dieser stellt – metaphorisch betrachtet – das Knusperhäuschen dar, wer will da noch Schokolade, wenn es dort bündelweise Geldscheine und Goldbarren gibt, mit denen man sich dann ohnehin alles leisten kann… Die Hexe ist dann natürlich ein Security, der sich selber an den offenstehenden Tresoren bereichern will, indem er echte Goldbarren durch gefälschte ersetzt. Mit seinem Elektroschocker kann er die Kinder solange in Schach halten, bis diese ihn in einen großen Tresor sperren können. Daraufhin erscheinen Papa und Mama Staubsaugervertreter mit ihren beiden Komplizen und füllen noch rasch zwei Taschen mit Geldscheinen und Goldbarren. Da sich sonst niemand im Tresorraum befand, musste man auch keine Kinder befreien…

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Hänsel und Gretel in den Fängen der Hexe – in Gestalt eines Security-Mannes. Jake Arditti, Thomas David Birch und Viktorija Bakan. Copyright: Herwig Prammer/ Kammeroper

Christian Tabakoff hat ein Zimmer mit Plakaten aus den 70 Jahren mit anliegendem Lagerraum, das den Einstieg zum Tunnel birgt, der in den Tresorraum der Bank führt, auf die Bühne gestellt. Er zeichnet auch für die Videoeinspielungen verantwortlich, die während der Umbauten gezeigt werden und Hänsel und Gretel auf dem Weg durch den Tunnel zeigen. Das „rote Männlein“ ist in dieser Deutung natürlich kein Fliegenpilz, sondern eine Verkehrsampel, an der wohl erzogene Kinder selbstredend bei Rotlicht derselben stehen bleiben. Die Kostüme von Natascha Maraval verorten die Ereignisse in das Ende der 70ger Jahre. Indiz dafür ist u.a. auch der Walkman, den Hänsel verwendet. Franz Tscheck sorgte noch für die passende, spannende Beleuchtung der Szenerie.

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Im Tresorraum: Jake Arditti und Viktorija Bakan. Copyright: Herwig Prammer/ Kammeroper

Jake Arditti glänzte mit seinem kräftigen Countertenor und seiner intensiven Rollengestaltung als Hänsel. Zuletzt trat er als Emone in Traettas „Antigone“ in der Kammeroper und als viel beachteter wahnsinniger Nerone in Händels „Agrippina“ im Theater an der Wien auf. Der Hänsel ist seine zweite Rolle in deutscher Sprache, die er ohne jeden Akzent sang. Bravissimo! Die Litauin Viktorija Bakanverfügte über einen ansprechenden, gut geführten Sopran, der sie auch an größere Bühnen empfiehlt. Zuletzt trat sie in der Kammeroper als Micaëla auf.Die Polin Natalia Kawalek verlieh ihren markanten Mezzosopran dem Traummännchen, einer Stimme aus dem Radio und der hysterischen Mama Gertrud. Zuletzt interpretierte sie in der Kammeroper die „Carmen“. Der US-amerikanische Bariton Tobias Greenhalgh gefiel als umtriebiger Ganove und Staubsaugervertreter Peter. Stimmlich etwas ins Hintertreffen geriet der Wachmann des australischen Tenors Thomas David Birch, der hier als „Hexe“ fungierte. Der aus Kolumbien stammende Tenor Julian Henao Gonzalez präsentierte das einfühlsame Sandmännchen und einen weniger einfühlsamen Ganoven. Auch er war bereits in der Kammeroper im Doppelpack L’heureespagnol“ (Ravel) und „Les mamelles de Tirésias“ (Poulenc) zu erleben. Johannes Kemetter gab sein rollengerechtes Debüt an der Kammeroper in der Rolle eines weiteren Ganoven.

Erfrischend wirkt so eine intellektuelle Neudeutung des altbekannten Märchens, bei der der Humor auch nicht zu kurz kam. Dem Publikum und dem Rezensenten hat es jedenfalls gefallen und beide klatschten allen Mitwirkenden aus tiefster Überzeugung. Publikumsliebling Jake Arditti erntete zudem einige verdiente Bravorufe!                      

Harald Lacina

 

 

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