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WIEN/ ImPulsTanztheater im Akademietheater: LUCINDA CHILDS MIT „DISTANT FIGURE“

20.07.2023 | Ballett/Performance

WIEN/ ImPulsTanz im Akademietheater: Lucinda Childs mit „Distant Figure“

Eine der ganz Großen des postmodernen Tanzes noch einmal live auf der Bühne erleben zu dürfen darf man wohl als Privileg bezeichnen. Die vor 60 Jahren durch Vermittlung von Ivonne Rainer am New Yourker Judson Dance Theater aufgenommene Lucinda Childs, sie begann dort mit Größen wie Trisha Brown, Steve Paxton, Deborah Hay und Carolee Schnemann zu choreografieren, schrieb gemeinsam mit ihren KollegInnen an der Legende dieses Hauses und der des Genres Postmodernismus im Tanz.

Lucinda Childs‘ Wirken in den letzten sechs Jahrzehnten beeinflusste den postmodernen, aber auch den zeitgenössischen Tanz maßgeblich. Mit ihrer 1973 gegründeten eigenen Kompanie begann sie bereits drei Jahre danach die Zusammenarbeit mit dem Komponisten Philip Glass, der mit seiner minimalistischen Musik, deren Wegbereiter er gemeinsam mit Steve Reich, Terry Riley und La Monte Young war, ihren choreografischen Intentionen ein kongenialer musikalischer Partner war.

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Lucinda Childs „Description (of a description)“ © yako.one

„Distant Figure“ ist ein zweiteiliger Abend. Auf das Solo „Description (of a description)“ von Lucinda Childs folgt nach einer Pause „4 etudes by Philip Glass“, live am Klavier gespielt von Alain Franco und getanzt von drei und zwei Mitgliedern des römischen MP3 Dance Project, das unter der Leitung von Michele Pogliani bereits in „Relative Calm“, dem ersten beim diesjährigen und 40. ImPulsTanz-Festival gezeigten Stück von Lucinda Childs, brillierte.

Ihr im Jahre 2000 in Montpellier uraufgeführtes Solo entstand zu einem eigens für sie verfassten Text. Bereits 1984 schrieb die New Yorker Schriftstellerin und Essayistin Susan Sontag „Description (of a description)“ für Lucinda Childs. Die Kurzgeschichte, die sie mit ein paar Bewegungen garniert performt, erzählt von einem Mann, der gestresst und überfordert plötzlich auf der Straße zusammenbricht.

Wie ein weiß leuchtender Screen, erhöht positioniert in einer schwarzen Wand, erscheint die Bühne für die inzwischen 83-jährige Lucinda Childs. Der schwarze Mantel, in dem sie von der Seite erscheint, der auch mit dem Rücken nach vorn angezogen nicht mehr passen will und den sie seitlich ablegt, wird zum Symbol für einen Prozess, der die Loslösung von sicher Geglaubtem, Bewährtem und Gewohntem verlangt. Das Bühnenbild von Hans Peter Kuhn, der auch Musik und Licht beisteuerte, fährt langsam erst die beiden seitlichen schwarzen Wände herunter, um dann auch den unter dem Podest für Childs befindlichen schwarzen Stoff allmählich nach oben ins Podest einzuziehen. Am Ende scheint sie auf ihrem Fundament zu schweben im weißen Nichts. Selten erzählt ein Bühnenbild so beredt eine/die Geschichte auf seine Weise.

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Lucinda Childs „Description (of a description)“ © yako.one

Der drohende Verlust von Identitäts-Stiftendem verunsichert. Der Widerstand gegen Veränderung kostet Kraft, erschöpft. Die notwendige Öffnung hinein in die Schutzlosigkeit ängstigt. Wenn erst jeder Rahmen für (s)ein Leben, jede Bodenhaftung verloren ging und man sich der dadurch gewonnenen Freiheit bewusst wird, kann man fliegen. Sie schwebt. Sie hat ihre Basis, die ihr festen Halt verleiht. Am Ende spricht sie zu uns wie aus dem Himmel, der auch auf diesen Mann wartet. Hier, auf Erden.
Neben dem visuell-performativen sind vor allem Lucinda Childs‘ Präsenz, ihre Ausstrahlung und Reife ein besonderes Erlebnis.

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Lucinda Childs „4 etudes by Philip Glass“ Alain Franco © yako.one

Der zweite Teil, „4 Etudes by Philip Glass“, war die Uraufführung eines konzertanten Tanzstückes zu live interpretierter Klaviermusik von Philip Glass. Der Flügel steht links hinten. Alain Franco beginnt mit Etude Nr. 3. Ohne tänzerische Begleitung. Zu Etude Nr. 5 erscheinen zwei Frauen und ein Mann (Asia Fabbri, Sara Mignani und Nicolò Troiano), gleich gekleidet in himmelblaue, ärmellose Overalls. Sie tanzen von Posen unterbrochene Drehungen, Stellungsspiele, immer wieder mit dem Rücken zu uns. Dann die Front, die Seite. Sie berühren sich auch, rollen über den Rücken des/der PartnerIn. Die choreografische Komposition folgt den Rhythmen und Strukturen der musikalischen. Vor dem Ende lösen sie die Synchronizität kurz auf, tanzen zeitlich seriell, finden wieder „heim“ in die Parallelität. Die Dramaturgie des Stückes ähnelt der von „Relative Calm“. Ebenso die formale Strenge, die ungeheure Präzision, das perfekte Timing und der hohe Tonus der Körper.

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Lucinda Childs „4 etudes by Philip Glass“ © yako.one

Nach der wiederum ohne Tanz gespielten Etude Nr. 9 tanzt ein Paar zur Etude Nr. 18 ein Duett, das von klassischem Bewegungsmaterial dominiert wird und das trotz der unverkennbar formal-strengen choreografischen Handschrift der Lucinda Childs zu einer in rotem Licht endenden romantischen Liebesgeschichte wird. Giovanni Marino und Agnese Trippa begeistern mit ihrer Präzision, Harmonie und Ausdrucksstärke.

Von den Kompositionsmechanismen her ist die Choreografie mit ihren Wiederholungen von Phrasen in leichten Variationen, wie etwa räumlichen Spiegelungen, der seit Jahrzehnten gepflegte Stil der Lucinda Childs, aber auch ein Abbild der kompositorischen Strukturen der Klaviermusik von Philip Glass. Das letzte Stück, ein sinnliches, berührendes Duett, kommt mit seiner emotionalen Wirkung auf dieser Ebene unerwartet. Es ist in seiner Wärme und Weisheit wie eine Beschwörung der Liebe, erzählt von deren Unsterblichkeit und der Unsterblichkeit des Tanzes. Jugend trifft Reife, die sich erinnert, die die Jugend trotz unbändigen Willens zu Schöpfertum und Neubeginn zur Wertschätzung von Erbe und Tradition aufruft.

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Lucinda Childs „4 etudes by Philip Glass“ © yako.one

„Distant Figure“ als Ganzes, „Description (of a description)“ zum Einen und „4 Etudes by Philip Glass“ im Besonderen scheinen wie ein Vermächtnis geschrieben zu sein, voller Wehmut und doch immer dem Neuen, der Kreation verpflichtet. Aus vollstem Herzen. So lange es schlägt.

Lucinda Childs mit „Distant Figure“ am 16.07.2023 bei ImPulsTanz.

Rando Hannemann

 

 

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