WIEN/ ImPulsTanz: Cie. Marie Chouinard mit „Magnificat & BodyremixRemix“ im Volkstheater Wien
Eines der absoluten Highlights des diesjährigen ImPulsTanz-Festivals zeigte die kanadische Choreografin Marie Chouinard mit ihren zu einem Abend verbundenen Stücken „Magnificat & BodyremixRemix“. Mit der Zusammenführung von „Magnificat“, uraufgeführt im Mai diesen Jahres beim Madrid en Danza Festival, und der deutlich überarbeiteten Version ihres Erfolgsstückes „Bodyremix“, als „BodyremixRemix“ ebenfalls im Mai in Teneriffa erstmals gezeigt, gelang ihr ein Geniestreich.
Johann Sebastian Bachs zweimalige Vertonung des lateinischen „Magnificat“, der Text entstammt dem Lukas-Evangelium, in den Jahren 1723 und 1733 (die zweite ist die meistgespielte Version), kann im weiteren Sinne als Teil der Weihnachtsgeschichte betrachtet werden. Diese Kantate in zwölf Sätzen beschreibt Marias Freude, nachdem ihr vom Erzengel Gabriel verkündet wurde, dass sie den Erlöser gebären wird. „Meine Seele preist den Herrn.“
Cie. Marie Chouinard: „Magnificat“ (c) Sylvie Ann Pare
Doch nicht nur das. Komponiert für einen fünfstimmigen Chor, fünf Gesangssolisten und ein Barock-Orchester mit Trompeten und Pauken, feiert Maria darin, „dass Gott die Welt durch den Messias verändern wird. Die Stolzen werden erniedrigt, und die Demütigen werden erhöht; die Hungrigen werden zu essen bekommen, und die Reichen müssen leer ausgehen (Lukas 1,51–53).“ „Magnificat“ ist somit das leidenschaftliche Adventslied eines frühen Sozialisten.
Für ihr Tanzstück kleidete die Choreografin, die hierfür auch das Lichtdesign, das Bühnenbild, die Kostüme und das Make-Up entwarf, die 13 TänzerInnen ihrer Kompanie unterschiedslos in hautenge und -farbene Shorts. Die Oberkörper bleiben frei. Goldene, trichterförmige Hüte auf den Köpfen taugen zum Empfang der Botschaft Marias, aber auch als Heiligenschein. Damit macht sie die TänzerInnen zu gesegneten, erhabenen Wesen.
Solche tanzen zu den oft mit Blackouts separierten Sätzen in beschwingten Ensemble-Sequenzen, gefühlvollen Trios, Duetten und Soli. Nachdem sie sich, als schattenhafte Figuren vor leuchtend blauer Rückwand, gedehnt und gelockert haben. Die eingespielte Musik beginnt ebenso mit den bekannten, noch unkoordinierten Klängen letzter individueller Proben aus dem Orchestergraben.
Sogar ein Techniker prüft noch das Licht.
Cie. Marie Chouinard: „Magnificat“ (c) Sylvie Ann Pare
Alle TänzerInnen lächeln zumeist während dieser Feier ihres Menschseins und ihrer Einzigartigkeit. Sie präsentieren sich als selbstbewusstes Individuum als Teil einer Gemeinschaft. Hymnische Choräle tanzen alle. Zu einer Sopran-Arie sehen wir das berührende Solo einer Tänzerin, voller Grazie, Anmut und mit einem gehörigen Schuss Erotik. Die Dynamik innerhalb der Struktur der Kantate und der Komposition stellt Marie Chouinard als Tanz auf die Bühne. Sie bricht oder konterkariert nichts. Der Tanz ist die Musik.
Erich Fromms „Ihr werdet sein wie Gott“ und die auch selbst empfundene (!) Heiligkeit eines jeden Einzelnen strahlen von der Bühne. Wir erleben trunkene Lebensfreude, die Sehnsucht des Einzelnen nach Zugehörigkeit, popkulturelle Referenzen, Hingabe und Humor. „35 Minuten voll Anmut und Gnade“, so das Programmheft.
Nach der Pause betreten wir mit „BodyremixRemix“ eine andere Welt. Bach, hier die Goldberg-Variationen in Interpretationen von Louis Dufort und Glenn Gold, spielt eine große, aber nicht die einzige musikalische Rolle. Die äußerst gefühlvollen „Variations on the Variations“ von Dufort, elektronisch bearbeitet wie auch die eingespielte, verzerrte Sprechstimme eines Mannes bilden im Mix mit Bruchstücken der Bachschen Musik das akustische Material, das spürbar auf dramatische und emotionale Wirkung zielt. Mit Erfolg.
Cie. Marie Chouinard: „BodyremixRemix“ (c) Sylvie Ann Pare
Die Kostüme von Liz Vandal bedecken den Oberkörper wie schon im ersten Stück nicht. Halterungen für die zeitweise verwendeten Krücken machen sie spezifisch. Diese Kostümelemente sowie Licht, Bühnenbild und Requisiten sind wiederum eine Schöpfung der Choreografin. Ein wichtiges Utensil ist der Spitzenschuh an nur einem Fuß. Humpelnd betonen sie diese Unvollkommenheit. Manche tragen zeitweise Krücken an Kopf, Mund, Bauch, Rücken und/oder Armen. Krücken also für das Denken, die Sprache, für Gefühl und Intuition, das Selbstwertgefühl und die eigene Handlungsfähigkeit. Hocker auf Rollen, Rollbretter und Rollatoren helfen bei der Fortbewegung. Zuweilen auch ein anderes Ensemble-Mitglied.
Die 13 TänzerInnen auf der Bühne gehen mit all ihren Unzulänglichkeiten, Einschränkungen und Behinderungen auf äußerst spielerische Weise um. Die mit diesen und für diese Hilfsmittel(n) kreierte gestische Sprache besticht durch ihre einzigartige Ästhetik, präsentiert von Weltklasse-TänzerInnen mit enormen physischen und Interpretations-Möglichkeiten. Es entsteht ein faszinierender Tanz, dessen gestisches Material durch diese Hilfsmittel eine wesentliche Erweiterung erfährt.
Die Ästhetik der damit erzeugten Bilder ist faszinierend. Sie ist jedoch nicht Mittel zum Selbstzweck. Ihre Metaphorik dringt in die Tiefen der seelischen Wunden, die eine fortschreitende Entfremdung von sich selbst schlägt. Die Wirkungen, die diese zeitigt, sind psychische, physische und Verhaltens-Behelfe, deren kompensatorische Effekte eben jenen Prozess der Entfremdung noch befördern. Eine individuelle und gesellschaftliche Todesspirale.
Cie. Marie Chouinard: „BodyremixRemix“ (c) Sylvie Ann Pare
Ein Zaun aus übereinander befestigten Ballettstangen, um den herum und in dem sie sich bewegen oder es versuchen (die TänzerInnen ihrer Kompanie sind bestens, auch klassisch geschult), manche kurz im Tutu, mag zum Symbol werden für die Diktatur einer eigenen künstlerischen Herkunft, der der Sehgewohnheiten und der sich an diesen orientierenden Programmierungs- und Förderungs-Politiken. Den Leistungsdruck an der Ballettstange, in der Kunst und auf die Kunstschaffenden thematisieren sie wie auch Sexismus und das zum eigenen Vorteil inszenierte Spiel mit diesem in einer männlich dominierten (Kunst-) Welt. Aus der Tradition Gewachsenes und dieser Entwachsenes zu schaffen gelingt Marie Chouinard jedoch schon seit Jahrzehnten. 1988 war sie das erste von inzwischen 18 Mal bei ImPulsTanz zu Gast.
„BodyremixRemix“ hat gegenüber der ursprünglichen Fassung „bODY_rEMIX/gOLDBERG_vARIATIONS“, die 2005 bei ImPulsTanz zu sehen war, deutlich an Kraft und Intensität gewonnen. Das Zeitlose der Bachschen Musik trifft hier auf den ewig gleichen Menschen, getrieben von den immer gleichen Sehnsüchten und Begierden. Nur die Kleider wechselt er im Lauf der Zeit. Auch die Mäntelchen, die er seinen unveränderlichen Idolen umhängt. Sie schieben eine fahrbare Kleiderstange über die Bühne.
Die Kostüme heben jeden Unterschied zwischen den Geschlechtern auf. Alle mit freiem Oberkörper und hautfarbenen und -engen Shorts, betonen sie das Kreatürliche und machen die politisch inkorrekte Rücksichtslosigkeit der Phänomene Eins-Sein-mit-sich-selbst und totale, allumfassende Entfremdung deutlich. Die Kompanie gehört mit ihrer tänzerischen Qualität zu den besten der Welt. Was sie unter der Führung ihrer einzigartigen Choreografin an Ausdruckskraft, Eleganz und purer Schönheit präsentiert, ist von herausragendem Niveau.
Cie. Marie Chouinard: „BodyremixRemix“ (c) Sylvie Ann Pare
Was diesem Abend sein eigentliches Gewicht und seine immense emotionale Wirkung verleiht, ist die Kombination dieser beiden eigenständigen Arbeiten. Es ist die Konfrontation mit (s)einem (klassisch-humanistischen) Ideal, dem zuzustreben der moderne Mensch fest überzeugt ist. Mit der Kapitalisierung aller Aspekte des Lebens, durch soziale Medien und eine Kultur, die Leistung und Selbstoptimierung als die neuen Götter proklamiert, erzeugt der Mensch Karikaturen seiner selbst. Dieser Abend zeichnet ein erschütterndes Bild einer Gesellschaft, die von ihren eigenen Götzen geschlachtet wird. Ein Meisterwerk.
Cie. Marie Chouinard mit „Magnificat & BodyremixRemix“ am 02.08.2025 im Volkstheater Wien im Rahmen von ImPulsTanz.
Rando Hannemann