WIEN/ ImPulsTanz: Nadia Beugré / Libr’Arts mit „Épique ! (pour Yikakou)“ im Odeon Wien
Es geht um das andere Ende des Seils, das droht, einem aus den Fingern zu gleiten. Hiermit formuliert sie den Anlass für ihre Reise zurück in ihr Heimatdorf Yikakou. „Komm und stirb“ bedeutet dieser Name. Die in der Elfenbeinküste geborene, nun in Frankreich lebende Choreografin, Tänzerin und Performerin Nadia Beugré, sie studierte (unter anderem) bei Größen wie Germaine Acogny und Mathilde Monnier, begibt sich an den Ort ihrer Kindheit, um sich vor allem mit sich selbst zu konfrontieren.
Was sie 2024 in diesem Dorf vorfand, dort, wo ihr Vater lebte, wo ihre Großtante ihr den Namen „Gbahihonon“ gab, der bedeutet: „Die Frau, die sagt, was sie sieht“, und wo sich einer örtlichen Legende nach eine Frau in einen Büffel verwandelte, um sich an ihrem Bruder, der sie hintergangen hatte, zu rächen, was sie dort fand waren nur noch Ruinen der seit langem unbewohnten Häuser. Sie musste Gräber freilegen vom Grün, das sie inzwischen überwachsen hatte.
Nadia Beugré: „Épique ! (pour Yikakou)“ (c) K. L. Toure
Hinten auf der großen Bühne des neoklassizistischen Wiener Odeon hängt ein Bündel Zweige, vom Lichtdesigner Paulin Ouedraogo mit schwachem Licht aus dem Dunkel herausgehoben. Aus dem Off erklingt afrikanischer Live-Gesang. Sängerin, Musikerin und Performerin Charlotte Dali bringt mit sich Atmosphäre auf die Bühne. Beugré folgt. Sie (und wir) sind angekommen in Yikakou. Die Grillen zirpen.
Man kann mit wissenschaftlichen Methoden, mit kühler Rationalität untersuchen, was vor einem liegt. Nadia Beugré entscheidet sich für ihre Gefühle, die sie in eine tiefere Dimension des Seins und des Verstehens leiten. „Wenn ein Vogel fortfliegt, braucht er einen Baum.“, sagte sie über ihr Stück. Und über den Ort ihrer Kindheit: „Der Baum ist weg.“ Es liegen nur noch zerknüllte Papier-Taschentücher herum, wie die Geschichten der Menschen, die Yikakou verließen. Aus einer weißen Pfütze am Boden zeichnen sie sich schlängelnde, in die Ferne führende Pfade, die schließlich verblassen.
Die visuellen, sprachlichen und akustisch-musikalischen Bilder, mit denen Nadia Beugré von ihrer Reise zu ihren Wurzeln erzählt, besitzen eine ganz eigene Kraft und Magie. Sie liegt unter dem hängenden Gestrüpp wie ihre Ahnen in ihren überwucherten Gräbern. Was dort langsam und unerbittlich physisch in die Unsichtbarkeit wächst, ist Spiegel für einen in ihr laufenden Prozess: Den der allmählichen Überlagerung ihrer kulturellen Identität. Die beiden schmieren sich weiße Paste auf die Körper und in die Gesichter. Sie geht während eines traditionellen, fast rituellen Gesanges verloren.
Nadia Beugré: „Épique ! (pour Yikakou)“ (c) Werner Strouven
Sie legt noch viel mehr frei. Geträumte Träume, Erinnerungen, Verwundungen, Schmerzen,
eine Kultur, die erst von den französischen Kolonialherren unterdrückt, dann vom Exodus ausgelöscht wurde. Beugré empfindet Mit-Verantwortung. Für das Sterben dieses Ortes und ihre eigene, im kolonialen Mutterland durch und mit dessen Kultur überschriebene Originalität. Die Wahrnehmung des inzwischen erreichten Ausmaßes ihres Weiß-Seins wird an dem Ort, der ihre einstige kulturelle Identität repräsentiert wie kein anderer, Teil eines Bewusstwerdungs-Prozesses.
Familie, Herkunft, kulturelle Prägung und spirituelles Erbe erscheinen im Licht ihrer durch zeitliche und räumliche Distanz geschärften Wahrnehmung anders, klarer. Und, wie sie sagte, habe sie ihre Großmutter, die als böse Hexe gesehen wurde und die sie persönlich nie hat erleben können, durch dieses Stück neu gefunden. Es sind die Kraft und die Seelen der Frauen, die Nadja Beugré und Charlotte Dali in ihren Tänzen und Gesängen heraufbeschwören. Es sind die vielen unbesungenen Jeanne D’Arcs, deren Vermächtnis sie ehren.
Knüllpapier. Aufgesammelt, geglättet, sortiert und ausgelegt zu einem Teppich von Erinnerungen und Geschichten, die sich dann doch anfühlen wie Fußfesseln. Ein Bündel geriffelter, hölzerner Stäbe. Rasselnd ihr Klang auf anderem Holz, zu Beginn schon auf der Bühne abgelegt, im Kreis dann um die weiße Pfütze ausgelegt wie um ein schützenswertes Inneres. Später steckt Beugré sie sich in Haar und Kleidung. Die Lieder sind längst verklungen, sie existieren nur noch in der Erinnerung, werden dort von neuem, anderem überlagert, bleiben aber Teil eines unauslöschlichen Fundamentes.
Nadia Beugré: „Épique ! (pour Yikakou)“ (c) Werner Strouven
Der Ambivalenzen gibt es viele. Anpassung sowie die gefühlte Verleugnung der eigenen Wurzeln erzeugen Schuldgefühle. Eine zwischen Afrika und Europa vermittelnde Identität auszubilden ist, wie die Rückkehr an den Ort seiner Kindheit, nicht möglich. Weil dieser Ort in uns einer ständigen Veränderung unterworfen ist. Das Geheimnisvolle, Mystische an diesem Ort ist das Geheimnis unserer vergessenen, verdrängten Vergangenheiten und Mythen, unserer Erlebnisse, Erfahrungen und deren emotionalen Wirkungen, die vom Fluss der Zeit in das Meer des Lebens getragen werden. Dorthin, wo alles sich vereinigt zu dem, was wir schließlich sind.
„Épique ! (pour Yikakou)“ ist ein melancholisches Stück voller Poesie. Weil wir im Außen immer nur uns selbst sehen können, werden die Beobachtungen dort in Yikakou zu einer Bestandsaufnahme ihrer eigenen, inneren Prozesse und Zustände. Sich dessen bewusst zu werden ist Teil des Stückes, es zu akzeptieren wird zur Botschaft an sich selbst. So wird „Épique !“ zu einem begeistert aufgenommenen, einer leichten Straffung durchaus würdigen Bild für das Mensch-Sein, für die Tragiken und Chancen unserer Existenz. Die Grillen zirpen wieder, wenn sie gehen. Das Tuch, dass die Toten bedeckte und die Erinnerungen, liegt nun an einem anderen Ort. Und die Stäbe trägt sie bei sich.
Nadia Beugré / Libr’Arts mit „Épique ! (pour Yikakou)“ am 08.08.2025 im Odeon Wien im Rahmen von ImPulsTanz.
Rando Hannemann