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WIEN /ImPulsTanz: Lucinda Childs und Robert Wilson mit „RELATIVE CALM“

09.07.2023 | Ballett/Performance

WIEN/ ImPulsTanz: Lucinda Childs und Robert Wilson mit „Relative Calm“ am 7.7.2023

Das 40. ImPulsTanz-Festival eröffnet mit einer Ikone des postmodernen Tanzes. Und mit dem Hinweis auf die Aktualität von Tanzgeschichte. Wie dem auf den Reichtum der Kunstform Tanz, deren spektrale Vielfalt bei diesem Festival mannigfaltig zu erleben sein wird. Bereits mit dem fulminanten Outdoor-Opening im Hof des Wiener Museumsquartiers mit „Burn!“ von Esben Weile Kjær und Doris Uhlichs „more than naked – 10th anniversary“, das 5000 ZuschauerInnen begeisterte, wurden Lebendigkeit und gesellschaftliche Relevanz des Tanzes eindrucksvoll demonstriert.

Seit Robert Wilson 1976 Lucinda Childs für seine Inszenierung von Philip Glass‘ Oper „Einstein on the beach“ engagierte, arbeiten die beiden Pioniere eng zusammen. Lucinda Childs prägte seit der Gründung ihrer eigenen Kompanie im Jahre 1973 den postmodernen Tanz entscheidend. Ihre Bewegungssprache und die Strukturierung von Raum und Zeit machen ihr Werk unverwechselbar. In Robert Wilson fand sie einen kongenialen Partner, einen, „mit dem man nicht viel reden muss“.

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Lucinda Childs/Robert Wilson: „Relative Calm“ (c) Lucie Jansch

„Relative Calm“ entstand 1981 als vierteiliges Werk zu minimalistischen Kompositionen von Jon Gibson. Robert Wilson schuf Bühnenbild und Lichtdesign. Für die Wiederaufnahme, die ein Resultat pandemiebedingter Isolation ist, sie wird vom römischen MP3 Dance Project unter Leitung von Michele Pogliani getanzt, setzte Childs zwischen zwei Teile zu Musiken von Jon Gibson („Rise“ von 1981) und John Adams („Light over water“, Teil 3 von 1985) eine neu entstandene Choreografie zu Igor Strawinskys neoklassizistischer Ballett-Musik „Pulcinella“.

Jon Gibson setzt einen metallischen Akkord, der das ganze Stück hindurch nicht verklingt. Dazu tropft er Töne in unveränderlichem Viertelnoten-Takt, die fast so etwas wie eine Melodie erzeugen. Die acht TänzerInnen sind in weiße Overalls gekleidet (Kostüme: Tiziana Barbaranelli). Ein schwarzer senkrechter Streifen auf dem Rücken korreliert mit der auf die rückwärtige Leinwand projizierten Animation. Nacheinander erscheinen Linien, von einem Akkord auf die Leinwand gesetzt, bilden geometrische Muster. Vorn schwebt eine Kugel langsam über die Szenerie, bricht mystisch in die Stringenz.

In wechselnden Synchronizitäten und ständigen Wiederholungen tanzen die acht mit ausgebreiteten Armen, gestreckten Beinen, Drehungen und Sprüngen geometrische Figuren in Körper, Raum und Zeit. Die Choreografie komponiert eine Stellungs-Dynamik, die die Arbeiten Lucinda Childs seit Anbeginn prägen. Präzision und Timing, die dem Ensemble abverlangt werden, sind überwältigend. Es gibt keine Geschichte. Das Zusammenspiel von Licht und Schatten, Körpern und deren Positionierung im Raum, abstrakten Mustern auf der Leinwand und minimalistischer Musik wird zum Plot. Auf diese Weise entsteht eine einzigartige Ästhetik, deren kühle Reduziertheit eine überraschende emotionale Wirkung entfaltet. Zum Ende des Stückes wandeln sich die parallelen Strukturen kurz einmal in serielle.

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Lucinda Childs/Robert Wilson: „Relative Calm“ (c) Lucie Jansch

Die Geschichte von „Pulcinella“ ist eine von Liebe und Verrat, List und Täuschung, Leidenschaft und Tod. Lucinda Childs abstrahiert die Geschichte und das musikalische Geschehen, das mit vergleichsweise süßlicher Romantik die den Mittelteil rahmenden minimalistischen Kompositionen konterkariert, mit ironischer Distanziertheit und erfrischend humorvoll. In rot und rot-schwarz mit überbreiten Schultern kostümiert, persiflieren die TänzerInnen höfisches Gebaren, barocke Tänze und emotionales Engagement, das sich insbesondere in den aus der Ordnung ins Chaos driftenden projizierten blutroten Linien auf der Leinwand zeigt. Und immer wieder leuchtet der kahle Kopf der zentralen weiblichen Figur auf wie eine weiße Kugel. Lucinda Childs „Pulcinella“ entwickelt eine immense Bildkraft mit überwältigender ästhetischer Wirkung.

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Lucinda Childs/Robert Wilson: „RelativeCalm“ (c) Lucie Jansch

Teil Drei ähnelt in seiner Ästhetik und Struktur dem ersten. Nun wieder in Weiß, tanzt das Ensemble zu flirrenden Tönen die Organisation von Raum und Zeit mit Stillstand und Bewegung. Auf die Leinwand werden zu einem zentralen orangefarbigen Punkt weiße projiziert, die schließlich ein geordnetes Muster ergeben. Die Projektion ist eine eigene Choreografie für Punkte, die in aufgebrochene Strukturiertheit mündet. Auch der Tanz verliert zum Ende hin kurz seine Strenge, bevor die Kompanie im Schlussakkord zum Kristall erstarrt.

Die drei Teile bindet Lucinda Childs selbst live mit zwei performativ rezitierten Tagebuch-Aufzeichnungen des russischen Tänzers und Choreografen Vaslav Nijinsky. Ihr erster Auftritt vor einem Zeitlupen-Video eines rennenden Leoparden in Schwarz-Weiß, der zweite vor wild hastenden Rudeln von Gnus und Büffeln. Das Animalische im Künstler und als mächtiger Widerpart aller ordnenden Kräfte.

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Lucinda Childs/Robert Wilson: „RelativeCalm“ (c) Lucie Jansch

Die drei Teile bindet Lucinda Childs selbst live mit zwei performativ rezitierten Tagebuch-Aufzeichnungen des russischen Tänzers und Choreografen Vaslav Nijinsky. Ihr erster Auftritt vor einem Zeitlupen-Video eines rennenden Geparden in Schwarz-Weiß, der zweite vor wild hastenden Rudeln von Gnus und Büffeln. Das Animalische im Künstler und als mächtiger Widerpart aller ordnenden Kräfte, der Einzelgänger und die Masse, der Jäger und die Gejagten.

Lucinda Childs, Ende Juni wurde sie 83, wird im Rahmen des ImPulsTanz-Festivals auch selbst live tanzen. Ihr mit  MP3 getanztes Stück „distant figure“ zu Musik von Philip Glass wird am 16. und 17.7. im Wiener Akademietheater gezeigt.

Lucinda Childs und Robert Wilson mit „Relative Calm“ am 07.07.2023 bei ImPulsTanz.

Rando Hannemann

 

 

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