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WIEN/ ImPulsTanz: Liquid Loft / Chris Haring: „BLUE MOON you saw“

12.10.2020 | Ballett/Performance

WIEN/ ImPulsTanz: Liquid Loft / Chris Haring: „BLUE MOON you saw“

Das ImPulsTanz-Festival Wien musste in diesem Sommer Corona-bedingt sein Performance-Programm komplett absagen. Um so erfreulicher ist, dass nun, unter strengen Auflagen, das 15-jährige Bestehen von „Liquid Loft“, der inzwischen weltweit renommierten Compagnie des österreichischen Choreografen und Tänzers Chris Haring, mit einer dreiteiligen Serie im Wiener Odeon gewürdigt werden kann. Neben der Uraufführung der neuesten Kreation Harings „BLUE MOON you saw“ gibt es mit „Shiny Shiny“ eine Buch- und Album-Präsentation und als  ImPulsTanz-Classic die Wiederaufnahme des 2007 entstandenen Stückes „Posing Project B – The Art of Seduction“ innerhalb von zwölf Tagen zu sehen.
ImPulsTanz Research Projects 2020 - Chris Haring

 

 
   

Chris Haring © Michael Loizenbauer

Das Werk von Liquid Loft durchzieht inhaltlich die Untersuchung und das Sichtbarmachen von individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Phänomenen, die letztlich auf gemeinsame Wurzeln und Ursachen zurückgeführt werden können. Chris Haring erweist sich immer wieder als ein die Oberflächen durchdringender Beobachter, dem Verhaltens- und elektronische Anästhetika – von den Menschen benutzt mit dem Ziel der Vermeidung des Spürens und Gewahr Werdens ihrer Vereinzelung, Isolation und Vereinsamung einerseits und insbesondere auch ihrer mangelnden Selbst-Liebe – mannigfaltigen Stoff für künstlerische Auseinandersetzungen damit liefern.

Stilistisch-ästhetisch sind die Arbeiten Chris Harings geprägt von einer sehr eigenen, expressiven Bewegungssprache, theatralen Elementen mit dem Einsatz von oft verfremdeter Sprache und schauspielerischen Ingredienzien, einer Klangwelt, die elektronische Sounds mit großenteils bearbeitetem Material natürlichen Ursprungs, wie Sprache, Musik und Geräuschen verbindet und, zuweilen, von der Integration von Live-Kamera und Video in das performative Geschehen auf der Bühne.

Das tänzerische Niveau der acht PerformerInnen Luke Baio, Stephanie Cumming (hier auch choreografische Assistenz), Katharina Meves, Anna Maria Nowak, Arttu Palmio, Hannah Timbrell, Dong Uk Kim und Dante Murillo (die drei Letztgenannten sind seit 2017 Mitglieder der Kompanie), deren Expressivität und physische und darstellerische Klasse geben in dieser Homogenität einem Choreografen einzigartige gestalterische Möglichkeiten an die Hand, die Chris Haring in seinen tiefgründigen, komplexen Sujets seit 15 Jahren auf preisgekrönte Weise zu nutzen weiß.


Liquid Loft / Chris Haring: „BLUE MOON you saw“ 5 © Michael Loizenbauer

Mit der hier uraufgeführten Performance „BLUE MOON you saw“ krönt Chris Haring sein bisheriges choreografisches Schaffen mit einem Meisterwerk. Die kühle Ästhetik und das Ort, Zeit und Traum oder Wirklichkeit im Ungewissen Lassende des 1961 entstandenen Films „Letztes Jahr in Marienbad“ von Alain Resnais sowie der 1933 entstandene, späterhin oft gecoverte Song „Blue Moon“ von Richard Rodgers (Komposition) und Lorenz Hart (Text), hier in einer Country-Version von Hank Williams aus dem Jahr 1949 verwendet („blue moon“ bezeichnet redensartlich seltene oder gar nie stattfindende Ereignisse), gaben dramaturgische und inhaltliche Impulse.

Episodenhaft, von Licht-, Sound- oder performativen Brüchen gebunden, vereint das Stück in Fortentwicklung der 2019 bei ImPulsTanz im Wiener Leopold-Museum gezeigten Arbeit „Stand-Alones (polyphony)“, in der jede(r) der acht PerformerInnen einen eigenen Raum bespielte und damit Isolation auf begehbare Weise erlebbar machte, die acht auf einer Bühne, ohne damit jedoch deren Vereinzelung aufzuheben. Posen und ritualisierte, sich perpetuierende Handlungen um Einsamkeit und Selbstmitleid prägen das Geschehen. Die flüchtigen Begegnungen sind neben einem Aneinander-Vorbeilaufen und -Reden auch Spiegelungen. Manchmal, wenn zwei sich begegnen, spiegeln sie sich physisch ihren unreflektierten psychischen Habitus. Eine radialsymmetrische Version dessen, von Luke Baio und Dante Murillo getanzt, gerät zum treffenden Bild für das end- und ausweglose Kreisen um einen nie erreichten, weil nie erkannten Kern. 


Liquid Loft / Chris Haring: „BLUE MOON you saw“ 2 © Michael Loizenbauer

 
   

Emanzipation von regionalen und sozialen Einflüssen und Prägungen verkommt hier zur Boden- und Bindungslosigkeit der Akteure. Ohne Vergangenheit und keiner Zukunft zustrebend geben sich die acht TänzerInnen sich selbst im Jetzt und Hier hin, jedoch ohne es als eines der mächtigsten Werkzeuge zum Glücklich-Werden zu benutzen. Weit entfernt. Haring zeichnet unterschiedliche, deformierte Charaktere mit individuell ausgeprägten Oberflächen. Opfer ihre Affekte und Emotionen, verbindet die Heimgesuchten die Unfähigkeit, einen schöpferischen, heilenden und damit Zukunft ermöglichenden Zugang zu den sie treibenden intrapsychischen Kräften zu finden.

Diese dystopische Vision einer Gemeinschaft von ge- und zerstörten substanzlosen Persönlichkeiten stellt Chris Haring als fein beobachtetes und in kraftvolle Bilder übersetztes Modell einer real existierenden Gegenwart auf die Bühne des Odeon. Dessen neoklassizistische Architektur übrigens wird ganz nebenher auch zur Inszenierung der Schatten der acht Wesenheiten vom Licht (Thomas Jelinek) eindrucksvoll in Szene gesetzt. Mit seinen komplexen, entrückten Klanglandschaften unterstützt Andreas Berger die starke emotionale Wirkung dieser Arbeit.


Liquid Loft / Chris Haring: „BLUE MOON you saw“ (Katharina Meves) © Michael Loizenbauer

Irgendwann wiederholen sie andeutungsweise, beschleunigt, Sequenzen. Der Sound wird drängender. Alles scheint sich irgendwie aufzulösen. Am Ende, zögerlich, verlischt das Licht, der Sound verklingt, und die TänzerInnen agieren fort in dunkler Stille. Im Ewigen Moment. Und der ist nicht der Himmel auf Erden. Er ist die Hölle.

Rando Hannemann

ImPulsTanz: Liquid Loft / Chris Haring: „BLUE MOON you saw“ vom 6. bis 10. Oktober 2020 im Odeon Wien.

 

 

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