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WIEN/ ImPulsTanz in der Künstlerhaus Factory: Camilla Schielin mit „into (quickening ground)“

10.08.2024 | Ballett/Performance

WIEN/ ImPulsTanz in der Künstlerhaus Factory: Camilla Schielin mit „into (quickening ground)“

Elf KünstlerInnen mit sehr unterschiedlichen Arbeiten haben die beiden KuratorInnen Breanna O’Mara und Chris Haring in die Reihe 8:tension des ImPulsTanz-Festivals eingeladen. Die Wiener Tänzerin und Choreografin Camilla Schielin hatte Gelegenheit, ihr im März 2024 im Tanzquartier Wien uraufgeführtes Solo „into (quickening ground)“ erneut vorzustellen. Sie weckt darin Geister der Vergangenheit und lässt sie durch den Saal und unsere Köpfe tanzen.

Die Künstlerhaus Factory, in der Auditorium und Bühne, weil auf einer Ebene, nicht getrennt sind voneinander, eignet sich gut für Arbeiten, die das Publikum und/oder den Raum, den es besetzt, einbeziehen in das performative Geschehen. Diese Gegebenheiten nutzt Schielin ausgiebig. Sie singt zu Beginn einen Song neben dem Publikum, bewegt sich durch es hindurch auf die Bühne, unter-, durch- und umwandert es im Laufe der Performance. Unter anderem, um Requisiten, verstaut unter den Podesten, auf denen die ZuschauerInnen dicht gedrängt Platz genommen haben, und imaginiertes Nicht-Physisches aus dem Publikum ins Licht der Stück-Öffentlichkeit zu holen.

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Camilla Schielin: „into (quickening ground)“ © Marcella Ruiz Cruz

Sie wischt über den Boden, scheint zu prüfen, was er verbergen könnte und was aus ihm entsprießen mag. Sie findet. Unter anderem und gleichnishaft „Tecktonik“, jenen Tanz, der in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts einen kurzen Boom auf Youtube erlebte. Sie gräbt sie aus, dessen Moves, webt aus Bruchstücken ein filigranes Netz aus Verkörperungen nicht nur eines Tanzes. Ihre Seele ist ein Loch, in das schon Vieles fiel, wie sie uns mit einem umgeschnallten Stoff-Beutel, bemalt mit einem Herz und dem Wort Hole, bedeutet.

Eine Kinderschaufel, über der wir saßen, ohne es zu ahnen, die, energisch unter ein Podest-Bein gerammt, zum Symbol wird für den Abschluss (oder das Pausieren) einer Grabung, für den bewussten Umgang mit einem zu Ende gehenden Abschnitt des Lebens. Und die gleichzeitig Räume öffnet für Kommendes. Die weiß, dass sie noch gebraucht werden wird für Ausgrabungen mannigfaltiger Natur. Auch die unfertige Schürze aus textilen Bausteinen (Kostüme: Karolin Braegger), später wird sie sie ablegen, erzählt von einem laufenden Prozess.

Der Sound von Paul Ebhart, er arbeitet mit Gitarrenaufnahmen von Luis Hackbeil Krüger, die er rein oder mit elektronischen Klängen überlagert verwendet, gibt eine mit mehrfacher Stille durchbrochene Klangkulisse, die auch Vögel, Insekten, singende Frauen, Straßen-Stimmgewirr und perkussive Sequenzen enthält. Viele Splitter. In einer starken Szene, sie liegt lange still mit dem Rücken zu uns an der Wand, lässt es Ebhart akustisch aus der Vergangenheit durch das Jetzt in die Zukunft hallen. Zwei Vorhänge, ein schwarzer und ein weißer, fallen von hoch oben herab auf den Bühnenboden und fließen stofflich über ihn ins Ungewisse. An diesem polaren Fluss hatte Schielin sich’s eingerichtet.

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Camilla Schielin: „into (quickening ground)“ © Marcella Ruiz Cruz

Jugendkultur ist kurzlebig und heftig in ihren Hypes mit immer stärkerem Ausrücken aus einer Normalität, die hinterfragt gehört, deren Verharrungs-Vermögen aber doch einen beträchtlichen Widerstand darstellt. Das Episodenhafte des Lebens, der stetige und sich selbst vorantreibende Wandel, die anhaltende Beschleunigung der wie Sternschnuppen vorüber ziehenden Trends, Challenges und Moden führt Schielin am Ende in die Gelassenheit einer Beobachterin.

Inhaltlich verwandt mit ihrem 2021 entstandenen Stück „take me to my house“, in dem sie sich mit materiellem und immateriellem Erbe beschäftigt, begibt sie sich mit „into (quickening ground)“ auf die Suche nach Bruchstücken einer Vergangenheit, die, bewusst oder unbewusst, wie Geister auftauchen, wiederkehren und mit Erinnerungen verwoben ins Körperliche fluktuieren. Die Flüchtigkeit und Zerbrechlichkeit der physischen Erscheinungen im Jetzt bindet Vergangenheit an eine Fülle von möglichen Zukünften. Die Grenzen zwischen individuellen und kollektiven Erinnerungen verschwimmen. Deren Zerfallsprozesse zeigt sie als Einlagerungen in ein individuelles wie kollektives Unbewusstes, das, wenn auch unsichtbar, existiert. Und wirkt.

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Camilla Schielin: „into (quickening ground)“ © Marcella Ruiz Cruz

Unbestimmt und fluide ist diese Arbeit. Sie bricht räumliche und zeitliche Determiniertheit auf. Der Mär von der Gerichtetheit der Zeit, quantenphysikalisch längst als solche qualifiziert, stellt sie mit ihrer ganz eigenen Ästhetik eine poetische Alternative entgegen. Geschäftigkeit und Untätigkeit, Virtuelles und Reales, Erinnerungen und Vergessenes, Schöpfer und Opfer, Aneignung und eingenommen Werden, Vergangenes und Zukünftiges verschmelzen zu einem im Jetzt sich manifestierenden, ewig unvollständigen Ganzen.

Camilla Schielin mit „into (quickening ground)“ am 08.08.2024 in der Künstlerhaus Factory Wien im Rahmen von ImPulsTanz.

 

Rando Hannemann

 

 

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