WIEN/ ImPulsTanz in der Halle G: Maud Le Pladec feat. Jr Maddripp mit „Silent Legacy“
„Komm! Steh’ auf, ich brauch’ dich!“, schreit das Kind. Die erst zehnjährige Tänzerin Adeline Kerry Cruz ist ein Wunderkind des Straßentanzes. Das Krumping, das sich aus dem Anfang der 90er erfundenen Clowning heraus entwickelt hat, mit diesem aber nichts zu tun haben will, ist wesentlich schneller und vor allem aggressiver als dieser. Der Wut, die diesen Tanz charakterisiert, einen physischen Ausdruck zu verleihen schafft das kleine Mädchen auf beeindruckende Weise.
Maud Le Pladec: „Silent Legacy“ © Cesar Vayssie
Die 1976 geborene französische Choreografin und Tänzerin Maud Le Pladec entwickelte „Silent Legacy“ 2022 für das Festival in Avignon, gemeinsam mit dem gebürtigen Franzosen und nun in Montreal lebenden Choreografen, Tänzer und Mentor Kevin Gohou aka Jr Maddripp. Le Pladec konnte bei dieser Österreichischen Erstaufführung nicht anwesend sein, weil sie derzeit für die Olympischen Sommerspiele in Paris arbeitet.
Aus zwei Teilen besteht das Tanz-Stück. Das ebenfalls in Montreal beheimatete Mädchen, das mit seiner Mutter, Oma und Großtante on tour ist, beginnt mit dem Krumping. Dieser Geschichten erzählende Tanzstil entstand in der afro-amerikanischen Gemeinde von Los Angeles in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts. Der Name KRUMP steht für Kingdom Radically Uplifted Mighty Praise. Seine gestischen Kernelemente sind Stomps, Chestpops und Armswings, Stampfen also, das Hervorschnellen der Brust und das Schwingen der Arme. Ergänzt um Bewegungen am Boden und so genannte Puzzles entsteht ein ungewöhnlich aggressiver Freestyle-Tanz, den seine Fans in Gruppen und Wettbewerben (Battles) als Straßen-Gebet zur Preisung Gottes praktizieren.
Maud Le Pladec: „Silent Legacy“ © Cesar Vayssie
Adeline Kerry Cruz ist bereits eine Meisterin ihres Faches. In einer Choreografie von Maud Le Pladec und Jr Maddripp begeistert sie das Publikum mit ihrem eben jene Kernelemente zelebrierenden Tanz. Aggression und Wut voller Energie heraus getanzt in die Welt. Ihre Präzision und ihre physische Präsenz auf der großen Bühne sind beeindruckend. Als Gast erlaubt sich Jr Maddripp einen kurzen Auftritt. Sein Krumping hat allein durch seinen massigen Körper eine ganz andere Wucht. Er lässt das zarte Mädchen wie eine Angebetete auf seinen mächtigen Schultern stehen.
Sie hat Freude an dieser Art, sich zu bewegen. Die tiefere Bedeutung dieses Tanzstiles, seine emotionale Rohheit und die protestierende Attitüde, sind ihr (noch) nicht bewusst (so ihre Verwandten). Gott sei Dank, möchte man sagen. Sonst bräuchte sie, gerade im Kontext dieses Stückes, psychologische Betreuung.
Maud Le Pladec: „Silent Legacy“ © Cesar Vayssie
Dem „Stillen Erben“, der Zehnjährigen, verleiht das Stück eine Stimme. Seine Angst, Verzweiflung und Ohnmacht, aus denen diese Wut wächst und die eine solche Energie erzeugen, lässt es in seinen Protest-Tanz fließen. Sie dreht damit den Spieß der Erbfolge um. Was ihr als unverantwortetes Erbe droht, invertiert sie in zweierlei Hinsicht mit einem Appell an die ihr im zweiten Teil folgende erwachsene Frau. Sie möge sich bewusst machen, was sie diesem Kind über- und hinterlassen wird und sie möge Verantwortung dafür übernehmen. Und das fruchtet.
Die Frau aus der Mutter-Generation, die Tänzerin Siaska Chareyre, sie wurde am Conservatoire Régional de Lyon und am SEAD Salzburg ausgebildet, wo sie 2023 ihren Abschluss machte, müht sich sehr zu erfüllen, was ihr mit solcher Wut aufgetragen wurde von dem Kind. In einer Choreografie von Maud Le Pladec und der Tänzerin Audrey Merilus, die unter anderem auch mit Florentina Holzinger zusammen arbeitet, tanzt Chareyre voller Energie in mehreren Runden. Immer wieder schaut sie ins Publikum, hockt sie sich an den Start und geht, vom drängenden Sound getrieben, mit leicht variiertem zeitgenössischen Material bis in die Erschöpfung. Aber es ändert sich (fast) nichts. Sie hält fest an ihrem Material, ist gefangen im Hamsterrad der eigenen Überzeugungen und Glaubenssysteme. Sie selbst ist zu Veränderung nicht fähig und steht damit für eine ganze Gesellschaft.
Maud Le Pladec: „Silent Legacy“ © Cesar Vayssie
Die dramaturgische Simplifizierung ist wirkungsvoll. Im Auftrag des Kindes kämpft die Erwachsene mit all ihrer (doch so begrenzten) Handlungsmacht gegen patriarchale Machtstrukturen und seine Wirkungen, gegen drohendes Unheil aus Klimakatastrophe und fortgesetzter Diskriminierung von Frauen, Andersfarbigen und auch Kindern. Ihr angestrengtes Ringen um Veränderung jedoch bleibt erfolglos. Die Vergeblichkeit des Protestes des noch so jungen Mädchens macht betroffen und lässt einen niedergeschlagen, fast traurig, zurück.
Maud Le Pladec feat. Jr Maddripp mit „Silent Legacy“ am 30.07.2024 in der Halle G im Rahmen von ImPulsTanz.
Rando Hannemann