WIEN/ ImPulsTanz im Volkstheater: Wim Vandekeybus / Ultima Vez mit „Infamous Offspring“
Eine Patchwork-Familie mit ehelichen und unehelichen Kindern ist heutzutage nichts Außergewöhnliches. Wenn die Eltern allerdings Zeus, der Göttervater höchstselbst, und seine Frau Hera sind, bekommt die Geschichte eine gleichnishafte Bedeutung. Mit „Infamous Offspring“ präsentiert der belgische Choreograf und Regisseur Wim Vandekeybus als Österreichische Erstaufführung einen Epos über die Zeitlosigkeit menschlicher Eigenschaften, Triebkräfte und Leidenschaften.
Vor zwei Jahren feierte er sein 35-jähriges Bühnen-Jubiläum bei ImPulsTanz mit der großen Show „Scattered Memories“, in der er viele seiner ehemaligen Mitstreiter noch einmal auf die Bühne bat und dort vereinte. Das Universum Vandekeybus folgt seit jeher gewissen Gesetzmäßigkeiten. Der Tanz ist geprägt von (s)einer unverwechselbaren Handschrift, seine Themen kreisen um das Menschliche, Inspirationsquellen sind oft Mythologie und Legenden.
Wim Vandekeybus / Ultima Vez: „Infamous Offspring“, im Bild: Lucy Black © Wim Vandekeybus
Opulent besetzt und ausgestattet verschmelzen in „Infamous Offspring“, im November 2023 in Luxembourg uraufgeführt, Tanz, lyrischer Text, Musik, Schauspiel, Video und Live-Malerei zu einer fast zwei Stunden währenden Orgie von Gewalt, Hass, Lügen, Intrigen, Gier und Eifersucht.
Die beiden SchauspielerInnen Daniel Copeland und Lucy Black verkörpern Zeus und Hera, die von oben, von einer hoch gehängten Leinwand herab, mit den auf der Erde Wandelnden reden. Und die mit ihren Eltern. Allein dieses Bild (als eines von vielen anderen), das die Eltern als unerreichbar darstellt, zeugt mit seiner Metaphorik von der Klugheit des Wim Wandekeybus und der Tiefe dieses Stückes. Es steht für die Eltern als für uns unerreichbar in die Tiefen unserer Seele eingegrabene psychische Instanzen, deren destruktives, sabotierendes Unwesen sie von dort aus bis ans Ende unserer Tage mit uns treiben.
Die Entstehungsgeschichte der ehelichen und der aus Seitensprüngen von Zeus hervorgegangenen Kinder und von deren aktuellen Befindlichkeiten und Taten erzählt das Stück mit phantasiereichen Bildern. Hephaistos ist der Gott des Feuers, des Schmiedens und des Handwerks. Aufgrund einer Missbildung bei seiner Geburt wird er gleich danach von seiner Mutter Hera vom Olymp geworfen. Auf das Bild vom „unwerten Leben“ haben die Nazis keine Exklusivrechte. Kongenial getanzt und gespielt von der schottischen Kontorsionistin, Malerin und Performerin Iona Kewney, erleben wir Hephaistos als behinderten, doch einzig arbeitenden Gott. Kewney erstellt live mehrere nur kurz an der Wand des rechts stehenden Kubus verweilende Kohlezeichnungen.
Wim Vandekeybus / Ultima Vez: „Infamous Offspring“, im Bild: Iona Kewney © Wim Vandekeybus
Ares (der Gott des Krieges und der Kriegsführung), Aphrodite (die Göttin der Liebe und der Schönheit, Gemahlin von Hephaistos, aber Geliebte des Ares, was Hephaistos eifersüchtig und rachsüchtig macht), Apollo (der Gott der Sonne, der Hirten, der Wahrheit, der Güte, der schönen Künste, der Prophezeiung und der Medizin), Artemis (die jungfräuliche Göttin der Jagd; sie strafte den Jäger Aktaion, der sie nackt in einer Quelle baden sah, mit der Verwandlung in einen Hirsch, der von seinen eigenen Hunden getötet wurde), Kallisto, Hebe und Psyche, Eros und Hermes, Dionysos und Athene (die der Stirn des Zeus entsprungen sein soll) werden von einer völlig neu zusammengestellten Tanzkompanie dargestellt. Einige Darsteller verkörpern mehrere Figuren, einige einen andersgeschlechtlichen Gott.
Das erschwert das Erkennen einiger Figuren, nur leicht gelindert durch das aufmerksame Verfolgen der schnell dahin huschenden Übertitel. Viel wichtiger jedoch ist die Meta-Ebene. Was treibt die Einzelnen, wie verhalten sie sich und wie gehen sie miteinander um? Die Dichterin Fiona Benson schrieb die Geschichte dieser Großfamilie neu, ohne den variantenreich überlieferten Mythos außer Acht zu lassen. Poetische Worte fand sie für die Abgründe in den Seelen der vielen Figuren. Das Bühnenbild entwarf der Choreograf selbst. Die vornehmlich mit natürlichen Instrumenten eingespielte Musik kommt von Warren Ellis/Dirty Three, ILA, das Lichtdesign von Wim Vandekeybus und Benjamin Verbrugge, die Kostüme von Isabelle Lhoas.
Der Tanz ist der Vandekeybus’sche. Die TänzerInnen seiner Kompanie „Ultima Vez“ meistern die Herausforderungen souverän. Dynamisch, hoch energetisch, akrobatisch, explosiv, von Kampfsport und Zeitgenössischem beeinflusst, tauchen sie ein in den Kosmos von Leidenschaften, Konflikten, Dramen, Gewalt und Tod.
Der Choreograf und weltbeste Flamenco-Tänzer Israel Galvàn brilliert gestisch, perkussiv und mit Witz als der blinde Prophet Tiresias. Auf einer zweiten, direkt auf die Bühne gestellten Leinwand ragt nur das obere Drittel seines Körpers aus einer Fläche, auf der er mit Schuhen in den Händen schnelle Rhythmen trommelt und mit Münzen klingelt und damit auch den Mammon als mächtigen Gespielen einführt.
Wim Vandekeybus / Ultima Vez: „Infamous Offspring“, im Bild: Israel Galvàn © Wim Vandekeybus
Der gegenüber seinen Kindern empfundene Hass des Vaters und die entzogene Liebe der Mutter werden zu Selbsthass, die konflikthafte Beziehung zwischen den Eltern selbst zu problematischen Persönlichkeits-Strukturen. Dieses kanalisieren die Figuren verschiedentlich. Diverse Narkotika (Drogen, Sex, Spiel), Gewalt, Rachegelüste, Eitelkeit, Gier, Frauenfeindlichkeit, Ausgrenzung, Diskriminierung und andere dunkle Triebe und Leidenschaften. Oder wie Hephaistos in Kreativität und Produktivität.
Die Mythologie ist aktuell, weil sie vom Menschen erzählt. Und der ist, wie er war. Immer der Gleiche. Nur die aus wandelbaren Vorstellungen von Moral und Ethik geschnürten gesellschaftlichen Korsette ändern sich. Und damit die Freiheiten, sein Menschsein auszuleben. Goethe’s „Nichts Menschliches ist mir fremd.“ wird hier zur Aufforderung, mit schonungsloser Ehrlichkeit in die Selbstanschauung zu gehen.
Es ist Gottvater selbst, der untreu, verlogen, gierig und intrigant ist. Er also, sein So-Sein, seine physischen und psychischen Gene sind die Wurzel allen Mensch-Seins. Das führt alle Hoffnung und jede Utopie ad absurdum, das macht jede politische Ordnung, die versucht, den Menschen nach bestimmtem Bilde zu formen, lächerlich, und das offenbart alle Bemühungen, den Menschen und die Gesellschaft als vornehmlich sozio-ökonomisch definiert zu beschreiben, als kurzsichtig und dumm.
Wim Vandekeybus / Ultima Vez: „Infamous Offspring“ © Wim Vandekeybus
Vandekeybus begibt sich mit „Infamous Offspring“ in das Zentrum dessen, was den Menschen und seine Geschichte seit jeher bestimmt. Er stellt sich neben jedwede Moral und Ethik. Er überwindet sie. Er beschreibt den Menschen, wie er ist. Und er anempfiehlt diese Perspektive allen, die Verantwortung tragen und insbesondere denen, die die Welt zu einer besseren machen wollen. „Infamous Offspring“ ist nicht dystopisch. Es ist wahr. Denn du musst mit dem Herzen sehen. Die Augen sind blind.
Dass „Infamous Offspring“ nicht jene emotionale Gewalt entwickelt wie das 2022 bei ImPulsTanz gezeigte Meisterwerk „Hands do not touch our precious me“, in dem Vandekeybus mit dem bildenden Künstler und Performer Olivier de Sagazan und der Komponistin, Sounddesignerin und Wissenschaftlerin Charo Calvo kollaborierte, liegt am üppigen Text, der immer den Umweg über das Ratio nehmen muss. Dennoch: Seine neueste Arbeit ist das große Werk eines großen Meisters.
Erich Fromm meinte einst: „Ihr werdet sein wie Gott.“ Er hatte ein anderes Gottesbild vor Augen. Denn wie diese Götter hier sind wir bereits.
Wim Vandekeybus / Ultima Vez mit „Infamous Offspring“ am 28.07.2024 im Volkstheater Wien im Rahmen von ImPulsTanz.
Rando Hannemann