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WIEN/ ImPulsTanz im Volkstheater: KIM Sungyong / Korea National Contemporary Dance Company mit „JUNGLE“

04.08.2024 | Ballett/Performance

WIEN/ ImPulsTanz im Volkstheater: KIM Sungyong / Korea National Contemporary Dance Company mit „JUNGLE“

 

Alle drei Jahre wechseln sie den Chefchoreografen. Das ist Programm. Der 1977 geborene Tänzer und Choreograf KIM Sungyong, der im Mai 2023 die künstlerische Leitung der 2010 gegründeten Korea National Contemporary Dance Company übernahm, ist somit der fünfte in seiner Position. Mit seiner von ihm entwickelten Methode „Process Init“ strebt er nach Tiefe und Wahrhaftigkeit im tänzerischen Ausdruck. Denn „Tanz ist eine Sprache, die nicht mit Worten beschreiben werden kann.“

Seine Arbeitsweise erinnert an die der Pina Bausch, die aus dem intensiven Spüren Bewegung entstehen ließ. Was KIM Sungyong mit seinem Prinzip „Sense & Response“, bei dem die TänzerInnen sich aus der Fokussierung auf sich selbst für Bewegungen entscheiden, nach bereits einem Jahr mit den 17 TänzerInnen der einzigen nationalen zeitgenössischen Tanzkompanie Koreas erreicht hat, zeigen sie in diesem hier als Österreichische Erstaufführung präsentierten, im April in Seoul uraufgeführten Werk.

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KIM Sungyong / KNCD: „Jungle“ © Hwang Inmo

Düster, bedrückend, beinahe gespenstisch ist die Atmosphäre. Eine Erste tanzt aus Reihe der im Kreis Gehenden, dann immer mehr. Verunsichert erscheinen sie, einsam und nicht wahrgenommen von den Anderen. In der trüben menschlichen Ursuppe entwickelt sich Individualität.

Der Tanz der auch klassisch ausgebildeten 17 TänzerInnen ist äußerst expressiv, ja explosiv, mit ausgeprägt individueller Gestik. Was von Anfang an besticht ist die Ehrlichkeit des Ausdrucks. Die Lichtstimmung wechselt plötzlich. Das Lichtdesign von Lee Jungyoon ist für sich betrachtet schon ein Kunstwerk. Vom diffusen Deckenspot zu bodennahen Strahlen von links, rechts, vorn rechts, die Rückwand nach oben ausklingend hell weiß, so dass die Tanzenden wie Schatten ihrer selbst agieren. Wunderschön: Wie durch das Blätterdach eines Dschungels strahlt es von oben (Bühnenbild: You Jaehun und Jo haerin (Youjam Studio)).

Darunter wechseln die Stimmungen und Konstellationen. Verschieden Viele auf der Bühne, solistische und Gruppen-Parts. Aber sie sind allein. Wie Atome schwirren sie durch einen nicht-leeren Raum. Erst später finden sich Paare, allein Gebliebene daneben, und schließlich formieren sie sich, sie kriechen zusammen, zu einer eng stehenden Gruppe. Der Sound von Marihiko Hara entwickelt eine geradezu hypnotische Wirkung. Krachen und Brandung, Klaviermusik, Klangteppiche und koreanische Streicher, in ihrer Lautstärke wellenförmige Flächen und Pulsierendes.

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KIM Sungyong / KNCD: „Jungle“ © Hwang Inmo

Die Arbeitsweise des Choreografen funktioniert. Das Ergebnis sind TänzerInnen, die auf einzigartige Weise Zustände, Konditionierungen und Emotionen einen physischen Ausdruck verleihen können. Dabei lassen sie das, was viele Jahre Training in ihre Körper eingeschrieben hat, weit hinter sich. Es entsteht ein äußerst dichtes Gewirk aus Moment-Aufnahmen von individuellen und Gruppen-Befindlichkeiten, die im Verlauf des Stückes ein komplexes Abbild von mannigfaltigen Aspekten der menschlichen Psyche ergeben.

Sie sind ungeheuer mutig. Sie entblößen sich. Sie zeigen sich nackt, zeigen ihre Seele ohne jeden Schutz. Ungemein beeindruckend. Ihr nach außen gestülptes Inneres macht sie so zerbrechlich, so verletzlich. Und so ehrlich. Diese absolute, bedingungslose Ehrlichkeit sich selbst und uns gegenüber berührt und macht uns zu Komplizen ihrer Reise in die Tiefen ihrer selbst. Womit sie uns uns selbst offenbaren. Ihr Schmerz ist unser Schmerz, ihre Verzweiflung, ihr Zerbrechen an ihrem Leid, ihre Orientierungslosigkeit, ihr Gefangensein und ihre Sehnsüchte sind die unseren. Aufgrund der starken Verbindung zwischen Emotion und Bewegung verändert sich das gestische Material von Show zu Show ein wenig. Die „Tagesform“ entscheidet mit.

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KIM Sungyong / KNCD: „Jungle“ © Hwang Inmo

KIM Sungyong synchronisiert in einer längeren Szene die gemeinsam tanzenden Männer und Frauen geschlechtergetrennt. Ein erster Schritte heraus aus der Einsamkeit. Dann finden sich einige Paare, die bald wieder zerfallen. Als würden sie einen Ausweg erahnen, schauen sie ins Licht da oben. Aber auch der, der auf den anderen steigt, kann es nicht sehen und nicht fassen.

Ihre Reise aus der Vereinzelung endet in den einen großen Organismus, als der sie pulsieren am Ende. Nur noch als schwarze Schattenrisse vor hellem Hintergrund existierend, erinnern sie an jene Platon’schen Höhlenwesen, die vom Leben nur dessen Schatten an den Wänden sehen. Und die diese Schatten für das Leben halten.

Ihre Reise ist unsere Reise in die schützenden, warmen, empfangenden Arme einer Masse aus ebenso hilflosen und bedürftigen Wesen. Die eine Frau, die den Mut hatte, sich abseits zu stellen, gibt schließlich auf und kriecht unter die Fittiche einer Gruppe, deren Gemeinsamkeit darin besteht, wie all die anderen Trost und Halt zu suchen bei all den anderen. Toxische Symbiose. So arbeiten Populisten, so entsteht Faschismus. Von den gleichen Defiziten und Bedürfnissen getrieben und bei diesen gepackt lassen sich die Menschen aufsaugen. Der Gruppen-Narzissmus als gefährliche Waffe.

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KIM Sungyong / KNCD: „Jungle“ © Hwang Inmo

Ihr Mut, sich anzuschauen, wächst aus unserer Angst, sich zu konfrontieren mit all dem Dunklen, den Schatten in uns. Ihre Sehnsucht nach Heimat entspringt unserer Furcht vor dem Verlust dessen, was wir zu Hause nennen. Ihre Wahrhaftigkeit zeigt das, wovor wir uns fürchten in uns selbst. Ihr Selbstzweifel kommt aus unserer lähmenden Gewissheit. Ihr Ringen um Wahrheit entsteht aus der Festigkeit unseres Glaubens. Ihr Straucheln bei der Suche nach Orientierung entstammt unserem klaren Standpunkt.

Die einzigartige Färbung des Bewegungsmaterials der Kompanie durch die Betonung der Individualität einer jeden Tänzer-Persönlichkeit, die Kostüme von Bae Kyongsool unterstreichen das, macht „JUNGLE“ zu einem ganz besonderen Erlebnis. Höchstes tänzerische Niveau, gepaart mit außergewöhnlicher Wahrhaftigkeit des Ausdrucks (jeder/jede Einzelne von ihnen ist wahr!), mit einer klugen Dramaturgie, die zwischenzeitlich atemberaubende Spannung erzeugt, mit einer sensiblen Choreografie, die Zustände der Individuen, von Paaren und die der Gruppe zeigt, mit atmosphärischen Bildern, mit einem Lichtdesign von ungeheurer Wirkung und mit sphärischem Sound, der einfach strukturiert und klanglich komplex die emotionale Wirkung des Stückes immens verstärkt. „JUNGLE“ hinterfragt unsere Wahrheiten und führt uns in die Ur- und Ab-Gründe unserer Existenz. Ein Meisterwerk!

KIM Sungyong / Korea National Contemporary Dance Company mit „JUNGLE“ am 02.08.2024 im Volkstheater Wien im Rahmen von ImPulsTanz.

 

Rando Hannemann

 

 

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