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WIEN/ ImPulsTanz im Odeon: Lucy Guerin Inc mit „How To Be Us & Split“

11.08.2024 | Ballett/Performance

WIEN/ ImPulsTanz im Odeon: Lucy Guerin Inc mit „How To Be Us & Split“

Zwei Stücke, aus dem selben ästhetischen Holz geschnitzt, von den selben Tänzerinnen getanzt und doch so verschieden in ihrer Aussage. Der australischen Choreografin Lucy Guerin gelangen mit diesen hier als Österreichische Erstaufführung gezeigten Arbeiten zwei faszinierende Duette, die bei aller formalen Klarheit diese nicht als Selbstzweck verfolgen. Im neoklassizistischen Ambiente des Wiener Odeon wirken diese beiden Choreografien umso intensiver.

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Lucy Guerin Inc: „How To Be Us“ © Gregory Lorenzutti

Das Duett „HOW TO BE US“ erarbeitete die in Melbourne lebende, 1961 geborene Lucy Guerin gemeinsam mit Lilian Steiner, derzeit in Stockholm lebende Tänzerin, Choreografin und Performerin, und der australischen Tänzerin Samantha Hines. Das nur 15-minütige Stück, das im Oktober 2022 in Melbourne uraufgeführt wurde, tanzen die beiden australischen Tänzerinnen Ashley McLellan und Tra Mi Dinh.

Das in freier Improvisation entstandene Bewegungsmaterial fügte die Choreografin in strenge formale Strukturen. Die zwei in roten Kleidern tanzenden Frauen spiegeln sich weit entfernt voneinander. Die Musik von Katerina Stathis legt eine Klang-Fläche in den Saal, ehe sie, mit lauten Drums eingeleitet, in treibenden elektronischen Sound mündet. Aus der Spiegelung wird kantige Parallelität. Auch die löst sich auf. Kurze, eingestreute Posen, dann begegnen sie sich physisch. Sich drückend, stützend, haltend, schiebend stehen sie sich gegenüber. Annäherung und Distanzierung, bis die eine die andere von hinten umarmt und sie dann, zurückweichend, allein stehen lässt.

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Lucy Guerin Inc: „How To Be Us“ © Gregory Lorenzutti

Mit äußerster Präzision, Eleganz, Anmutung und Ästhetik untersuchen die beiden auch klassisch geschulten Tänzerinnen die Begriffe Freiheit und Empathie, Individualismus und Gemeinschaftsgefühl und Selbsterkenntnis und -behauptung. Hochsensibel choreografiert führt uns Lucy Guerin in das Innenleben zweier Frauen auf dem Pfad der Emanzipation in einer pluralistischen Gesellschaft. Wunderschön!

„SPLIT“, zusammen erarbeitet mit Lilian Steiner und Melanie Lane, einer australisch-javanesischen Choreografin und Performerin, wurde 2017 und ebenfalls in Melbourne uraufgeführt. Das dramaturgische Konzept dieser 45-minütigen Performance ist vordergründig einfach. Zeit und Raum teilen sich, halbieren sich jeweils. 20 Minuten tanzen die beiden innerhalb eines riesigen auf den Bühnenboden geklebten Quadrates, das sie dann per Klebestreifen selbst in zwei Teile separieren. Die rechte Seite ist für zehn Minuten ihre Bühne, die sie dann wiederum halbieren. Für fünf Minuten. Neun Mal teilen sie den Raum. Immer dichter rücken sie zusammen, immer kürzere Zeit steht ihnen für ein erzwungener Maßen gemeinsames Leben in dieser enger werdenden Bühnenwelt zur Verfügung.

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Lucy Guerin Inc: „Split „ © Courtesy la Biennale di Venezia Andrea Avezzu

Die eine trägt ein blaues Kleid, die andere ist nackt. Diese beiden Kostüme geben den beiden Performerinnen Charaktere, Intentionen, Wertesysteme und Triebstrukturen, die erst im Verlauf des Stückes herausgearbeitet und sichtbar werden. Ein an- und abschwellender elektronischer Sound von Scanner begleitet alle neun Sequenzen. Das Lichtdesign von Paul Lim erhellt abwechselnd die kleiner werdende Tanz-Fläche von oben und in der nächsten Sequenz die Tänzerinnen von links.

Es beginnt in Harmonie und endet dramatisch. Durch die knapper werdenden Ressourcen entsteht allmählich ein Druck, der die Beziehung zwischen den beiden Tänzerinnen stört. Sie beginnen auf dem immer enger werdendem Raum zu konkurrieren. Die Konflikte verschärfen sich und zwingen die Figuren in die Offenbarung ihrer eigentlichen Werte und psychologischen Antriebe. Die Frau im Kleid repräsentiert die menschliche Gesellschaft, individuell wie kollektiv, mit ihrem egozentrischen Fokus auf Bewahrung von Wohlstand, Lebensstandard, persönlichen Lifestyle und Konsum-Gewohnheiten. Die Nackte ist wie eine Verkörperung der immer heftiger unter Druck geratenden natürlichen Umwelt des Menschen sowie auch des von allen gesellschaftlichen, politischen, religiösen, ökonomischen und psychischen Verbildungen befreiten – und damit natürlichen – Menschen.

Es endet dramatisch. Aus der letzten, winzigen verbleibenden Fläche, beide versuchen sich dort stehend zu behaupten, kippt die Frau im Kleid rücklings heraus. Die Natur bleibt, wenn der Mensch erst einmal sich selbst überwunden haben wird, als Sieger zurück.

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Lucy Guerin Inc: „Split „ © Courtesy la Biennale di Venezia Andrea Avezzu

Die beiden Tänzerinnen, spürbar ist ihre Freude am Tanz, sind Extraklasse. Ihre Bandbreite reicht von klassisch bis zeitgenössisch, ihr Ausdrucks-Spektrum von rein physisch kühl und abstrahiert bis zu diversen tiefen Emotionen. Die zwei großartigen Choreografien schaffen es, aus einer unverwechselbaren Ästhetik mit klarer Strukturiertheit und raum-zeitlicher Stringenz, die in beiden Stücken auch aufgebrochen wird, Inhalte und Aussagen zu destillieren, die in ihrer Komplexität und Relevanz die Kernthemen heutigen Seins adressieren.

„SPLIT“, 2018 ausgezeichnet mit dem Shirley McKechnie Award für herausragende Choreografie, erzeugt in der ersten Sequenz einen trance-ähnlichen Zustand, vergleichbar dem, in dem die heutige menschliche Gesellschaft ihrem selbst- und fremd-zerstörerischen Ideal von unbegrenztem Wachstum nacheilt. Das Stück verweist auf die exponentielle Beschleunigung der menschheits-induzierten destruktiven Prozesse und die, damit einhergehend, im selben Maße zunehmende Dringlichkeit von fundamentalen Veränderungen. Denn: „Neue Tafeln setzt mir, meine Brüder! Neue Tafeln mit neuen Werten.“ Also sprach Zarathustra.

Lucy Guerin Inc mit „How To Be Us & Split“ am 08.08.2024 im Odeon Wien im Rahmen von ImPulsTanz.

Rando Hannemann

 

 

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