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WIEN/ ImPulsTanz im Odeon: Liquid Loft / PHACE: „coal mine birds – Aus der Serie Soirée Dansante“

18.10.2025 | Ballett/Performance

WIEN/ ImPulsTanz im Odeon: Liquid Loft / PHACE: „coal mine birds – Aus der Serie Soirée Dansante“

Dass Kunst sich selbst begreift als sensibler Beobachter gesellschaftlicher, politischer und ökologischer Prozesse ist wahrlich keine Novität. Wenn aber dieses Selbstverständnis in eine musikalisch-tänzerisch-performative Form gegossen wird wie in Liquid Lofts neuestem Stück „coal mine birds – Aus der Serie Soirée Dansante“, dann schon. Das ImPulsTanz-Festival lud zu einem Special in das Wiener Odeon.

Die Zusammenarbeit mit dem Ensemble für Zeitgenössische Musik PHACE erweist sich ein weiteres Mal als außerordentlich fruchtbar. Das bereits für die immersiv angelegte Performance „Seid umschlungen, Millionen!“, Anfang März diesen Jahres als ihr gemeinsamer Beitrag für „Johann Strauss Wien 2025“ im Wiener Reaktor als begehbare Installation gezeigt, erarbeitete formale und ästhetische Koordinatensystem ist wiedererkennbar.

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 Liquid Loft / PHACE: „coal mine birds“ (c) Michael Loizenbauer

Das Odeon, ebenfalls eine von Säulen gerahmte Bühne, wird in „coal mine birds“ allerdings nur für einen Umweg über diese dem Publikum zur Inspektion des bereits belebten Settings angeboten. Danach folgt übliches Frontaltheater. Mit der Trennung von Bühne und Tribüne erschöpft sich das Gewohnte aber schon. Fünf MusikerInnen mit ihren Instrumenten und Gerätschaften, acht PerformerInnen vor eigener Videowand und zwei später in Slow Motion wie Geister aus dem Publikum quellende Tänzerinnen warten auf ihre Einsätze.

Den ersten hat der Cellist Roland Schueler, der mitten unter den ZuschauerInnen platziert die Arie der Königin der Nacht aus Mozarts „Zauberflöte“ mit ihren so berühmten Koloraturen singt, intonierend gestützt von einem Vocoder und eingebettet in elektronischen, verfremdenden Sound. „Die Hölle Rache kocht in meinem Herzen. Tod und Verzweiflung flammet um mich her!“ Die acht Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne drapieren Kleidungsstücke für die Live-Projektion auf ihre Videowand. Die Musik dazu, ein apokalyptisches Klang-Gemenge aus live gespielten Natur-Instrumenten und elektronisch erzeugtem Sound, macht die PerformerInnen zu Archäologen ihres eigenen Lebens.

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Liquid Loft / PHACE: „coal mine birds“ (c) Michael Loizenbauer

Sie spielen nicht nur mit textilen Versatzstücken einer längst zu Vergangenheit vergorenen Zukunft. Ihre Posen vor ihren isoliert stehenden Wänden, ihre bald auch den Raum erschließenden, vereinzelten Aktionen schreiben die Geschichte vom kultivierten Individualismus fort. Lippensynchron, zu falscher Stimmen sprechend sagt eine: „Ich habe es nicht kommen sehen.“

Eine mehr oder minder klar erkannte Bedrohung ist im Bewusstsein der PerformerInnen angekommen. Ihre Handlungsunfähigkeit resultiert aus fehlender Einigkeit und Einheit. Und als würde die zersplitterte Masse sehnsuchtsvoll ihre Tentakel ausstrecken, als würden die Vielen auf der Tribüne in den Chor der voneinander Getrennten einstimmen wollen, erklimmen jene zwei Geister wie deren Stellvertreter die Bühne. Abwärts.

Die Musik spielt einen ahnungsvollen Soundtrack, komponiert in antizipierter Retrospektive. Die fünf Mitglieder von PHACE, Manuel Alcaraz Clemente (Schlagwerk), Alexandra Dienz (Kontrabass), Mathilde Hoursiangou (Klavier/ Keyboard), Walter Seebacher (Klarinette(n)) und Roland Schueler (Cello), jeder von ihnen meisterhaft auf seinem/ihrem Instrument, spielen zeitgenössische Kompositionen von Simon Steen Andersen, Alessandro Baticci, Jérôme Combier, François Sarhan, Agata Zubel und Andreas Berger.

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Liquid Loft PHACE coal mine birds (c) Judith Thaler

Letzterer, Haus- uns Hof-Sounddesigner und Gründungsmitglied von Liquid Loft, gießt seinen elektronischen Sound wirkungsvoll in das Gefäß aus tonalen Phrasen und zeitgenössischem Duktus folgenden Alternativen bei der Klangerzeugung mit klassischen Instrumenten. Es kratzt und kracht, scheppert und wimmert, brummt und kreischt. Solistisch oder gemeinsam holen sie aus ihren Instrumenten – neben dem Sauberen – Neues heraus. Die resultierenden Klangereignisse fahren einem in die Glieder (Künstlerische Leitung: Reinhard Fuchs), unterstützt von Licht Design und Scenografie von Thomas Jelinek. Der macht aus der Säulenhalle mal einen wunderschönen, dann einen Ort des Zerfalls. Jedenfalls ist ihm eine Räume und Atmosphären schaffende Bespielung dieses Theaters gelungen.

Chris Haring (Künstlerische Leitung und Choreografie) erneuerte sein Ensemble für diese Produktion maßgeblich. Neben den dienstälteren und -jüngeren Tänzerinnen und Tänzer Katharina Meves, Hannah Timbrell, Dante Murillo und Verena Herterich erweisen sich Ida Osten, Livia Khazanehdari, François-Eloi Lavignac, Coralie Bénard, Jackson Carroll und Cristina Commisso als der Haring’schen tänzerischen Ästhetik gewachsene Neuzugänge.

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 Liquid Loft / PHACE: „coal mine birds“ (c) Michael Loizenbauer

Chris Haring öffnet seine Bewegungssprache. Aus einer über eine lange Phase seines Schaffens kultivierten Introspektion an sich selbst leidender Individuen wird hier der Einzelne als empfindliches Barometer für Druckschwankungen im Außen. Die Musik bohrt sich kraftvoll in die Eingeweide. „Es schält sich durch viele Oberflächen“, jeder beginnt zu spüren, dass hier etwas schon längst aus dem Ruder gelaufen ist. Sie empfinden zunehmend gleich.

Hannah Timbrell tanzt in einem stillen Solo ihre Sehnsucht, ihre Fragen, Verzweiflung und ihre Anklage, auch das Leugnen der eigenen Mit-Verantwortung. Die Choreografie seziert die Seele einer Gesellschaft, der ihr individueller und kollektiver Selbstbetrug zum Über-Lebenselixier geronn.

Coal mine birds wurden jene inzwischen sprichwörtlichen Anzeiger giftiger Gase unter Tage genannt. Verstummten sie, war höchste Lebensgefahr für die Bergleute, die schnellstens aus der Grube mussten. Die Funktion dieser Kanarienvögel schreiben sich die Kunst für die Gesellschaft und diese hier uraufgeführte Arbeit für die aktuellen politischen, sozialen und auch ökologischen Verhältnisse auf diesem Planeten zu.

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Liquid Loft / PHACE: „coal mine birds“ (c) Michael Loizenbauer

Sie reden mit ihrem Tanz, ihren Worten und ihrer Musik nicht von Kriegen, Zerstörungen und Verwüstungen, Klimakatastrophe und Ressourcen-Vernichtung, zunehmender Spaltung und Fragmentierung der Menschengemeinschaft, Individualisierung, Intoleranz und Hass. Wie massiv die Bedrohungen sind, lassen sie uns fühlen, indem sie von sich erzählen, stumm schreien und jegliche Harmonie verlachende Klänge in den Raum senden.

Wie Überlebende nach der Katastrophe suchen sie den Anderen. Zu einem Requiem zeigen sie Fragmente ihrer Gesichter auf ihren Videowänden. Ausgegrabene Erinnerungen an Hoffnungen und Schicksale. Die Musik spielt einen Abgesang auf eine in langer Agonie dahin siechende Gesellschaft, ein Totenlied für einen sterbenden Planeten. Sie legen ihre Videowände um. Sie bereiten die Bahren.

Auf der Rückwand läuft die Apokalypse. Der Sound krächzt. Es bleibt ein Trümmerfeld, eine leere Welt. Es ist der Nachhall einer so genannten Hochkultur. Dumm, blind, taub, selbstgefällig, egozentrisch. Vor allem aber: Primitiv. Lange wirkt die Stille, bis alles erstirbt.

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Liquid Loft / PHACE: „coal mine birds“ (c) Michael Loizenbauer

Die düstere Poesie, die Kraft der Musik und die Wucht der Emotionalität dieser Arbeit fahren einem in die Glieder. Dort angekommen machen sie uns zu Komplizen ihrer Ahnungen, zu Mitwissern ihrer Prophezeiungen und zu Mit-Schuldigen am bevorstehenden Ruin. Liquid Loft und PHACE zeigen mit dieser Arbeit ihrer Serie „Soirée Dansante“, was Kunst heute kann und soll: Aus kluger Selbstreflexion gewachsene Wirkmacht. „coal mine birds“ ist ein gewaltiges Stück Musik-Tanz-Theater.

Liquid Loft / PHACE mit „coal mine birds – Aus der Serie Soirée Dansante“ am 17.10.2025 im Odeon Wien.

Rando Hannemann

 

 

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