WIEN/ ImPulsTanz im Akademietheater: Jan Lauwers‘ Needcompany mit „Billy’s Violence“
Chronologisch gesehen sollte das Stück „Billy’s Violence“, hier in Österreichischer Erstaufführung gezeigt, vor „Billy’s Joy“ angeschaut werden, weil eben vorher entstanden. Doch Victor Afung Lauwers, der Sohn von Jan Lauwers, dem führenden Ensemble-Mitglied der belgischen „Needcompany“, der sich mit den zehn Tragödien und den zehn Komödien des britischen Autors William Shakespeare auseinandersetzte, um daraus je eine Tragödie und Komödie zu destillieren, ging so frei mit den Stoffen um, dass es letztlich keine Bedeutung für das Verständnis dieser beiden bei ImPulsTanz gezeigten, so gar nicht jugendfreien Stücke hat.
Needcompany: „Billy’s Violence“ © Maarten Vanden Abeele
„You!“ Ein wenig wie ein opulent gekleideter Hofnarr erscheint Maarten Seghers, von dem auch die Musik für beide Stücke stammt, und weist ins Auditorium. Womit von Anfang an klar ist, dass es hier nicht um einen in Zeit und Attitüde fern von uns angesiedelten Stoff gehen wird, sondern dass die Needcompany Shakespeare als Vehikel nutzt, um allzu Heutiges und allzu Menschliches in den kommenden zwei Stunden auf die Bühne zu bringen.
Seghers stellt sich vor und beschreibt die Zustände zu Shakespeares Zeiten. Die Gewalt auf den Straßen, Menschen werden geteert und gefedert, Hexen werden verbrannt, öffentliche Hinrichtungen, Hängungen, die Eingeweide werden Menschen bei lebendigem Leibe herausgerissen … Das ist die Zeit, in der seine Werke, so auch seine Tragödien, entstanden. Das ist der Geist, den seine Werke spiegeln. Und unsere Zeit? Welchem Geist kann Theater heute einen Spiegel vorhalten?
Needcompany: „Billy’s Violence“ © Maarten Vanden Abeele
„Portia“ heißt die Tochter des „Kaufmanns von Venedig“ und der Titel der ersten von neun Szenen.
Sie, schön, reich, intelligent, streitet mit ihrem Vater auf englisch und katalanisch. Er ist krank. Sie beklagt seine Veränderung, den Verlust der tiefen Liebe zwischen ihnen. Sie fühlt nichts. Sie stottern. Sie glaubt, dass er sie hasst. Er „muss ein ehrbarer Mann sein!“ Geigen-Musik. Narzisstische Kränkungen. Eingesperrt sein in Rollen-Zuschreibungen und -Konventionen.
„Marina“ aus „Pericles, Prinz von Tyrus“ hustet wie alle anderen. Die Pest oder Corona? Sie ist schwarz, zieht sich aus. „Ich bin ehrlich Frau oder keine Frau!“ Sie wird reduziert auf ihren Körper und ihre sexuelle Anziehungskraft. Ein Mann fickt eine Frau mit weißer Totenschädel-Maske, dann die Trommel und das Mikro. Unkontrollierte, übermächtige männliche Lust. Wildes Rumpfbeugen aller zu dissonanten Streichern.
„Desdemona“ aus „Othello“,er ist despotisch und gewalttätig, streitet mit ihm um ein Taschentuch. Er schleift sie an den Haaren über die Bühne, würgt sie. „I can’t breath!“ Sie rechtfertigt die Gewalt des Mannes ihr gegenüber, sie entschuldigt sich. Romeo: „Das Mädchen muss sterben!“ In einem schwarzen Plastik-Sack wird sie herausgetragen.
Needcompany: „Billy’s Violence“ © Maarten Vanden Abeele
Sie findet sich alt und krank, die herrschsüchtige „Cleopatra“, umgeben von ihrer Dienerschaft. „Wie sehr liebst du mich?“ fragt sie ihren verheirateten Liebhaber und schickt ihn weg. Er lügt, sie lockt, blickt selbstgefällig auf ihre Jugend zurück. „Ich habe nichts mehr.“ Sie flirtet mit dem jungen Romeo. Der Ältere, Mächtige, in seinem verletzten Selbstwertgefühl, wird gewalttätig, lässt Romeo blutig schlagen auf der Trommel. Und er macht Cleopatra dafür verantwortlich, dass er so weit geht. Sie: „Bis in jedem meiner Kinder die Erinnerung an die Gebärmutter verbrannt ist!“ Die (un-) stillbare Sehnsucht nach den paradiesischen Zuständen im Mutterleib. Romeo und Julia, beide in BH und Slip, tanzen skurril. Er reißt ihr symbolisch das Herz heraus und isst es, sie sie uriniert auf ihn.
Romeo und „Julia“ treiben’s wild. Natursekt, sie fistet ihn, er fingert sie rektal, die Fliegen summen, sie ficken. Sie ist 13 und uriniert und defäkiert auf ihn. Er schmiert sich die braune Masse über Gesicht und Bauch. Und beginnt das Gift zu spüren. Sie jedoch hat es ausgespien, küsst ihn, er stirbt. Wie ihre eigenen Schatten tanzen alle im grauen Licht. Sie schleudern Grace (Ellen Barkey) herum, reißen ihr die Zunge heraus, hacken ihr die Hände ab, zwängen sie in eine Zwangsjacke und setzen sie mit einem Stick im Mund vor die Trommel. Und es soll noch schlimmer kommen.
König Lear sagt unaufhörlich „Nichts!“ Seine Tochter „Cordelia“ mit ihm. „Ihre Möse so fest zugenäht, dass Hengst und Marder heftig ejakulieren.“ Sie küsst ihren Vater. Der Elektra-Komplex, das Pendant zum Ödipus-Komplex. „Ich bin alt und vergesslich. Ich weiß, du liebst mich nicht.“ Und er wird gewalttätig gegen seine Tochter. Er kann sie, seine Tochter, nicht loslassen, nicht gehen lassen ins Leben. „You can’t breath, Papa!“ Sie stirbt in seinen Armen. Eine wahrlich bewegende Szene.
Needcompany: „Billy’s Violence“ © Maarten Vanden Abeele
Maarten singt in „Ophelia“ aus „Hamlet“ holländisch mit Sprachfehler und einer gigantischen Erektion unter seinem roten Rock. Und will nicht aufhören. Er scheint „eine Person mit besonderen geistigen Bedürfnissen“ zu sein. Romeo provoziert ihn aggressiv: „Töte dich!“
Wie in einem überfüllten Whirlpool drängen sie sich in „Gruoch“ („Macbeth“). Der ist blutgefüllt, alle baden im Blut. Vier große Puppen werden zu lebensechten Begleitern. Sie beschimpft ihn. „Tot wären wir besser dran!“ sagt er. Sie: „Was passiert ist, ist passiert.“ Sie wälzen sich vor dem Pool in jenem Blutbad. Und ohne es zu sagen erzählen sie von der Sinnlosigkeit des/ihres Lebens.
Sie hält seinen leblosen blutverschmierten Körper in ihren Armen und streichelt ihn. „Nein!“ sagt „Imogene“ aus „Cymbeline“ immer wieder. „Krone meines Schmerzes.“ „Wo ist sein Kopf?“ „Warum haben sie seinen Kopf abgehackt?“ Sie weint und repetiert: „Rot!“ So berührend ist diese Geschichte von einer Liebe über den Tod hinaus und der Unfassbarkeit eines Verlustes. Es wurde brav applaudiert.
„Billy’s Violence“ sucht die Ursachen der Gewalt in der Welt und in uns und findet in Shakespeares Werken Geschichten von offenbar ewiger Gültigkeit. Die starke, komplexe Bildsprache des Stückes schockiert. Auf der Theater-Bühne. Im Fernsehen und in den sozialen Medien sind solcherlei Szenen dagegen gern gesehen. Wegen der größeren Distanz und der Anonymität des Betrachters. Die Needcompany erforscht häusliche Gewalt, es ist vor allem Gewalt gegen Frauen,
Femizide, rassistisch motivierte Gewalt (George Floyd’s Flehen klingt vieldeutig im Chor der Klagen), Kannibalismus und sehr spezielle sexuelle Vorlieben als pathologische Auswüchse pervertierten Verständnisses von Liebe, Euthanasie. Das infantile Spiel mit Puppen, Substitute für geliebte und liebende Personen, wird zum Teil der Gewalt-Orgie. Der überdeutliche Hinweis auf in der Kindheit liegende, tief ins Unbewusste verdrängte Ursachen.
Needcompany: „Billy’s Violence“ © Maarten Vanden Abeele
Die in diesem Stück und diesem Text so ausführlich beschriebene Gewalt, oft, aber nicht ausschließlich die gegen Frauen, mit ihren mannigfaltigen Ausprägungen und Erscheinungsformen lässt sich auf einige wenige gemeinsame Ursachen zurückführen. Ökonomische, gesellschaftliche und soziologische Bedingtheiten spielen eine Rolle, können jedoch das Eigentliche, bei ausschließlicher Betrachtung, nicht erfassen. Die dem Menschen seit dem langsamen Aussterben matriarchaler sozialer Strukturen eingeimpfte Hierarchierung der Geschlechter wirkt gemeinsam mit den verbreitet vermittelten und übernommenen Gefühlen von Minderwertigkeit und Unzulänglichkeit, der resultierenden mangelnden Selbstliebe und dem Patriarchat mit seiner Abwertung der Frau als Wirkung und Ursache zugleich. Die gesellschaftlichen Bedingungen inklusive religiöser Sanktionierungen befördern den Ausbruch bzw. lassen ihn in Ermangelung eines hinreichend starken regulativen Korsetts zu. Die zunehmende Verrohung der Gesellschaft in den sozialen Medien beobachtet dieses Stück dramaturgisch, ohne es direkt zu benennen: Dem Wort folgt die Tat.
Die individuelle psychische Konditionierung wird in „Billy’s Violence“ als die treibende Kraft bei der Entstehung von Gewalt herausgearbeitet. Die Strukturen sind immer die gleichen. Seelische Verletzungen, ungeheilt in unserem Unbewussten vergraben, entfalten nicht nur in uns ihre unheilvolle Kraft, sondern werden über Generationen vererbt. Die Erscheinungsformen mögen sich ändern, die Ursachen nicht. Das macht die Aktualität des Stückes aus und seinen Wert. Großartiges Theater!
Jan Lauwers‘ Needcompany mit „Billy’s Violence“ am 14.07.2023 bei ImPulsTanz.
Rando Hannemann