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WIEN/ ImPulsTanz/Halle G: Astrid Boons mit „Khôra“

22.07.2024 | Ballett/Performance

WIEN/ ImPulsTanz: Astrid Boons mit „Khôra“ in der Halle G

Die Belgierin Astrid Boons, Tänzerin und Choreografin, betont, dass es ihr in ihren Arbeiten immer um die menschliche Essenz geht. Mit der Österreichischen Erstaufführung ihres im Oktober 2023 in den Niederlanden uraufgeführten Stückes „Khôra“, das ImPulsTanz im Rahmen seiner Reihe „[8:tension] Young Choreographers“ zeigt, führt sie das mit selten zu erlebender Intensität vor.

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Astrid Boons: „Khôra“ © Sjoerd Derine

Chora, jener Ort, der neben dem Schöpfer und den Ideen als ein Drittes für die Konstitution der Welt benötigt wird, wird für Astrid Boons zu einem düsteren, nur von ein paar Felsenbrocken der vollkommenen Trostlosigkeit entrissenen Ort. Fünf TänzerInnen in hautengen, auch die Köpfe komplett bedeckenden hellblauen Overalls (Kostüme: Bregje van Balen) liegen verteilt wie hinein geworfen und (n)irgendwo gelandet. Damit führt Boons die für diese Arbeit zentrale philosophische Kategorie ein: Das Geworfensein in diese Welt, das uns zu letztlich vereinzelten Wesen macht.

Boons erweitert diesen Begriff noch, indem sie neben unsere Geburt auch die fortschreitende Technologisierung der Welt stellt als einen zusätzlichen Grund für dieses per mannigfaltiger Vermeidungsstrategien betäubte Grundgefühl in der menschlichen Existenz. Boons‘ Khôra ist zugleich das ins Physische transformierte Abbild der inneren Landschaften der Protagonisten. Solcher Art psychologisch grund-disponiert schickt sie ihre TänzerInnen auf die Suche nach Halt, nach sich selbst, nach dem Mitmenschen und nach etwas Verbindendem, auch mit der Welt.

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Astrid Boons: „Khôra“ © Sjoerd Derine

Die Fünf, zu unkenntlichen, gesichts- und geschlechtslosen Wesen gemacht, beginnen aus der Regungslosigkeit heraus mit kleinsten Bewegungen zu zeigen, dass sie leben. Der Sound blubbert, das Deckenlicht sendet einen Kegel. Sie halten immer wieder inne, kriechen wie Raupen, bewegen sich wie Reptilien und Primaten. Schnell wird klar, welch hohes Niveau die fünf TänzerInnen besitzen. Karolina Szymura, Spencer Dickhaus, Amy Josh, Matilde Tommasini und Lukas Karvelis, allesamt herausragend, arbeiten sich mit hoher Körperspannung durch ein höchst anspruchsvoll choreografiertes Stück, das sie durch Regression, Verzweiflung, höchsten inneren Druck, Qual, Orientierungslosigkeit, Konvulsionen, (spastische) Lähmung und unerträgliches Leiden an sich selbst, der Vereinzelung und der Welt führt.

Der Versuch der Menschwerdung wird auch deutlich durch die im Verlauf des Stückes erfolgte Entblößung der Köpfe. Nach der überwunden scheinenden Regression werden Gesichter von Frauen und Männern, Persönlichkeiten erkennbar. Umso beklemmender, weil nun uns deutlich ähnlicher, wirken deren erfolglosen Versuche, Kontakt zu Anderen herzustellen. Auch Aggression und physische Konflikte thematisieren sie. Sehr vereinzelte, sehr kurze, flüchtige, oberflächliche Begegnungen entstehen und enden sofort wieder. Weiter geht’s auf dem endlosen Irrweg durch die tristen Täler der Einsamkeit.

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Astrid Boons: „Khôra“ © Sjoerd Derine

Zaza Dupont schafft mit Bühnenbild und Licht eine die emotionale Wirkung verstärkende düstere Landschaft. Ebenso mit seinem Sound Miguelángel Clerc Parada, mit dem Boons seit Beginn ihrer Choreografinnen-Karriere vor acht Jahren zusammenarbeitet. Die Musik entstand in enger Zusammenarbeit mit dem choreografischen Team und zeitgleich mit der Stückentwicklung. Das Ergebnis ist ein Stück aus einem Guss.

Der Mensch muss sich transzendieren, weil er Mensch ist. Diesen fünf bleibt das verwehrt. Sie finden trotz angestrengtesten Bemühens keinen Weg zu sich, aus sich heraus, zum Anderen und in die – unmenschliche – Welt. Astrid Boons zeigt mit „Khôra“, dass sie mehr ist als ein Riesen-Talent. Sie ist mit der Professionalität, der Präzision, der ungeheuren Kraft, dem philosophisch-psychologischen Tiefgang und der emotionalen Reife ihrer Arbeit weit über dem Niveau eines „Young Choreographer“ anzusiedeln.

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Astrid Boons: „Khôra“ © Sjoerd Derine

„Khôra“ ist wahr, weise, handwerklich meisterlich umgesetzt und schaut uns tief in die Seele. Am Ende geht eine Frau allein, aufrecht, durch das Trümmerfeld aus Fels und Körpern. Sie scheint Kraft und Orientierung gefunden zu haben. Sie legt sich schließlich doch wieder nieder. Zu den anderen. Die sind wie sie. Allein. Verloren. (N)Irgendwo. Überwältigt und unendlich traurig bleibt man zurück nach dieser herausragenden Arbeit.

Astrid Boons mit „Khôra“ am 20.07.2024 in der Halle G im Rahmen von ImPulsTanz.

Rando Hannemann

 

 

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