WIEN/ ImPulsTanz: Cie. Marie Chouinard mit „M“
Mit kräftig kolorierten Perücken und Hosen, die Oberkörper frei, agiert das zwölfköpfige Ensemble der Compagnie Marie Chouinard zum Rhythmus seiner Atem- und Stimm-Geräusche. Die Kanadierin, die seit 1988 regelmäßig bei ImPulsTanz zu Gast ist, liefert mit der Österreichischen Erstaufführung ihres Ende Jänner 2023 im Grand Théâtre de Québec uraufgeführten Stückes „M“ „eine Huldigung des Lebendigseins zwischen Wahnsinn und Weisheit“, wie sie das Stück beschreibt.
Seit über 40 Jahren choreografiert die 1955 geborene Tänzerin, Choreografin, Regisseurin, Autorin und bildende Künstlerin Stücke für die Bühne, den Film und das Internet. Avantgardistische Arbeiten, die immer ein Hauch von Anarchie durchweht. Marie Chouinard war von 2017 bis 2020 Direktorin für Tanz bei der Biennale in Venedig. Ihre Choreografien finden sich in den Repertoires vieler namhafter Tanzkompanien.
Marie Chouinard: „M“ © Sylvie Ann Pare
Vier liegen am Boden, nach dem verklungenen Brummen das Rauschen eines Regens. Sie schützen sich. Vogel-Gezwitscher. Eine Fünfte kommt mit einem Mikrofon, stellt es vorn in die Mitte, geht ab. Einer haucht einen Rhythmus ins Mikro, der per Looper wiederholt wird. Dann eine Frau ihren mit dem Ausatmen erzeugten Rhythmus, ebenso geloopt. Eine Frau gebietet das Ende der Wiederholungen, erzeugt IHREN Rhythmus und befielt den Start des Loopers. Eine Fünfte kommt, bewegt die Hüften, haucht ihren Rhythmus ins Mikro und befielt dem Looper … Ihr Atem mischt sich mit elektronischem Sound (Musik: Louis Dufort), das weiße Licht (Beleuchtung, Bühnenbild, Kostüme und Perücken: Marie Chouinard) wechselt ins Blau-Lila. Plötzlich Atmosphäre. Auch eine irgendwie erotische.
Marie Chouinard: „M“ © Sylvie Ann Pare
Eine Frau tanzt den Rhythmus auf der Stelle. Bald alle fünf dicht beieinander, synchron. Eine schert aus, stoppt per Handstreich den Sound, atmet ihren eigenen Rhythmus ins Mikro und gebietet das Abspielen. Der Tanz wird intensiver, immer mehr TänzerInnen stoßen dazu. Sie imitieren synchron das Atemgeräusch. Mit ihrer blauen Hose sticht Carol Prieur, seit 1995 Mitglied der Compagnie, hervor. Marie Chouinard schuf drei Kreationen eigens für sie, die 2010 vom Magazin TANZ zur Tänzerin des Jahres und 2014 mit dem Prix de la Danse de Montréal – INTERPRÈTE gekürt wurde.
Kurz einmal tanzt eine allein, während die Anderen hinten sitzen, sehr bald jedoch wieder alle synchron. Einer macht’s vor, die Anderen kopieren die Bewegungen nach Kräften. Perkussives im Sound, Kampfsport-Moves, Repetition im Tanz. Das Energieniveau steigt im Kampf um die akustische Vorherrschaft. Variantenreich wird die Wiederholung inszeniert, facettenreich die Synchronisierung in der Gruppe. Sie fallen, stehen auf. Synchron. Die Stimme kommt dazu. „Hi Hi Ha!“ Alle jauchzen ausgelassen und rennen. Plötzlich Stille und Dunkelheit.
Marie Chouinard: „M“ © Sylvie Ann Pare
Carol Prieur spricht in einer Fantasie-Sprache ins Mikro, eine tanzt dazu. Dann weitere Sprach-Tanz-Paare. Während dessen stehen die Anderen mit verschränkten Unterarmen vor ihren Gesichtern. Ein ritueller Tanz um eine große, kreisrunde, weiße Lichtfläche am Boden wirkt wie eine Beschwörung. Einer in der Mitte, zittern die Umstehenden im Rhythmus des elektronischen Sounds. Ein Kauz schreit, sie umarmen sich kurz, der Kauz dreht durch. Abrupt ins „Oio ah!“ und Tanz dazu. Es ist beeindruckend, welch fantasievolle physische Bilder sie für die Laute findet.
Ein längeres stimmliches und tänzerisches Duett wird von synchronem, die Wiederholungen variierenden Gruppen-Tanz abgelöst. Aus einem Schulterschluss löst sich eine Frau ins Abseits, ein Mann folgt ihr. Sie bespringt ihn, umklammert ihn mit Beinen und Armen, ein Koitus im Stehen zu wunderbarem Sound. Alle fangen einen imaginären Regen genussvoll mit Händen und Gesichtern, öffnen und schließen auf Knien die Beine, liegen am Ende hinter dem großen weißen Kreisrund vorn, das dargebracht wird wie ein Angebot. Schaut hin ins Zentrum! Dort ist Licht. Doch auch ein Abgrund. Auch eine Warnung.
Marie Chouinard: „M“ © Sylvie Ann Pare
„M“ versprüht Freude an Bewegung und am Leben. Oberflächlich betrachtet. Die Energie und Expressivität, das geschlossen hohe tänzerische Niveau der Compagnie Marie Chouinard, auch unter den jüngeren Ensemble-Mitgliedern sind bereits Preisgekrönte, begeistern. Doch „M“ ist so viel mehr. Der Rhythmus des Atems wird physikalisiert. Synchronisation der Einzelnen über den Atem als dem Medium, über das das Leben aufgenommen wird. Und was für ein Leben? „M“ zeigt einerseits die Gemeinschaft als das Verbindende, Tröstende, andererseits das Narkotikum Gemeinschaft.
Die Arbeit erzählt von der Denaturalisierung des Menschen, von bidirektionalem Dominieren (der Einzelne die Gruppe, die Gruppe den Einzelnen), von der Faszination und Anziehungskraft (oder: Sexyness) von Führern wie von Mehrheiten, von Masse und Macht, vom Bedürfnis nach Überlegenheit und Macht versus Gemeinschaftsgefühl, vom nicht Wahrnehmen oder Ignorieren der Verführung und der eigenen Verführbarkeit, von der Anfälligkeit für Diktatoren und Diktaturen, vom Verleugnen seiner Individualität, dem sich Dreingeben in die Gruppe, um endlich Anerkennung und Aufmerksamkeit zu erlangen. Natürlich zu einem hohen Preis, dem der Selbst-Aufgabe.
Marie Chouinard: „M“ © Sylvie Ann Pare 5
Aber dann haben wir ja noch die Influencer, die empfehlen, wie man richtig lebt. Oder al qaida, den Islamischen Staat, die Salafisten, die (Neo-) Faschisten. Oder den ganz gewöhnlichen neoliberalen Kapitalismus mit seinen dem Individuum und der Gesellschaft angedienten Rezepten für – ökonomischen – Erfolg. Alles mit dem Ziel, sich selbst nicht mehr spüren, also anschauen zu müssen. Wer das tut, und wer sich heilt, weils Anschauen genügt, kommt unweigerlich in die Liebe. Denn die ist Anfang und Ende von allem. Auch von „M“.
Cie. Marie Chouinard mit „M“ am 12.07.2023 bei ImPulsTanz.
Rando Hannemann