WIEN/ ImPulsTanz: William Kentridge mit „The Great Yes, The Great No“ und „Ursonate“
Der vielfach ausgezeichnete Südafrikaner William Kentridge ist Maler mit Ausstellungen in großen Museen weltweit, Autor, er macht Filme, Performances, Musik und Theater, er inszenierte Opern an wichtigen Häusern dieser Welt und fördert mit seinem 2016 gegründeten „Centre For Less Good Idea“ in Johannesburg interdisziplinäre, experimentelle und kollaborative Kunstpraktiken. In diesem Jahr ist er mit zwei Bühnenwerken zu Gast bei ImPulsTanz.
In „The Great Yes, The Great No“ geht er in das Jahr 1941 zurück und führt uns auf das umgebaute Frachtschiff „Captain Paul Lemerle“, das eine bunte Schaar von Emigrierenden beherbergt. Deren Flucht aus Europa vor Krieg und Verfolgung durch Nazi- und Vichy-Regime von Marseille nach Martinique ist eine poetische Reise über ein Meer von politischen Einstellungen, künstlerischen Positionen, psychologischen (Ab-) Gründen, gesellschaftlichen Konventionen, individuellen Sehnsüchten und Träumen.
William Kentridge: „The Great Yes, The Great No“ © Monika Rittershaus
Einen Chor von sieben Afrikanerinnen – sie singen in Isiswati, Isizulu, Isixhosa, Setswana, Xitsonga und Sepedi (wie alle anderen textbasierten Passagen deutsch übertitelt) – stellt Kentridge als Symbol für alle An- und bei irgendeiner Überfahrt Umgekommenen, für alle Herkünfte, alle kulturellen Prägungen, für die Leistungen der Frauen bei jeglichem Wiederaufbau und Neuanfang und für das Einende im weiblichen Prinzip. Ihr Gesang, komponiert und arrangiert von Nhlanhla Mahlangu, beeindruckt nicht nur mit dem Timbre ihrer Stimmen. Die Ehrlichkeit dieser bestens ausgebildeten Sängerinnen und die emotionale Intensität ihres Vortrages beeindrucken tief. Auf gleiche Weise erreicht der Gesang eines (namentlich leider nicht explizit benannten) schwarzen Solo-Sängers die Herzen. Großartig!
Opulent inszeniert mit Videoanimationen im Hintergrund (Kim Gunning), mit Kostümen von Greta Goiris, die zum Beispiel den Chor in kolonial tradierte Kleidung mit Versatzstücken einer Plastik-Wegwerfgesellschaft hüllt, mit einem variablen Bühnenbild von Sabine Theunissen, mit vier Live-MusikerInnen (Marika Hughes (Cello), Nathan Koci (Akkordion und Banjo), Tlale Makhene (Percussion) und Thandi Ntuli (Klavier)), mit zwei TänzerInnen und sechs PerformerInnen, mit surrealen Objekten und viel Text entsteht ein äußerst lebendiges, vielschichtiges Bild dieser Zwangsgemeinschaft aus tatsächlich Gereisten und Hinzugedachten.
William Kentridge: „The Great Yes, The Great No“ © Monika Rittershaus
Ein Erzähler führt durch die in Tages- und Nachtabschnitte gegliederten Stationen der Reise mit einer Fülle von Ereignissen, Gedanken und Gefühlen. Große Masken mit den Konterfeis der Reisenden und deren geistiger Hintergrund und emotionaler Zustand werden visuell, textlich und performativ zu einem sich schnell drehenden Kaleidoskop zusammengefügt. Mit der Einführung dieser Persönlichkeiten und deren Schaffens und Wirkens erzeugt Kentridge ein hochkomplexes Bild der ideologischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Konditionierungen einerseits der einzelnen Persönlichkeiten, zudem aber auch eines ganzen Kontinents.
Neue antirationale Weisen, sich Sprache und Bild zu nähern, wie Kentridge selbst seine Arbeitsweise beschreibt, erzeugen ein nicht bewertetes Konglomerat aus unterschiedlichsten Geistes-, Seelen- und Traumlandschaften. Viele Fragen werden aufgeworfen, einige Antworten gefunden.
Kapitän ist Charon, der Fuhrmann der Toten. Seine (auch als fluide Identitäten dargestellten) Gäste: Der Surrealist André Breton, der Anthropologe Claude Lévi-Strauss, die Autorin Anna Seghers, der Kommunist und Romancier Victor Serge, der kubanische Künstler Wilfredo Lam, Aimé Césaire und seine Frau Suzanne (die schon zwei Jahr zuvor jene Reise auf sich nahmen), Jane und Paulette Nardal (in den 20er und 30er Jahren begründeten sie in Paris gemeinsam mit den Césaires und Léopold Sédar Senghor (der erste Präsident des Senegal) die antikoloniale Négritude-Bewegung), die Zeitreisenden Frantz Fanon, die beiden Joséphines Bonaparte und Baker, Trotzki, Stalin und Lenin.
William Kentridge: „The Great Yes, The Great No“ © Monika Rittershaus
Die Kolonialmächte, repräsentiert durch zwei Franzosen, versucht mit ihren ignoranten, dekadenten Wertesystemen und Vorstellungen von Hoch-Kultur die Afrikanisch-Stämmigen zu dominieren. Die jedoch wehren sich heftig gegen ihre Assimilation. „Gewöhnt euch an mich!“ Sie wehen gesanglich mit den Fahnen ihrer Négritude. Diese politische Bewegung nahm die europäisch geprägte Auseinandersetzung mit Afrika aufs Korn mit dem Ziel der kulturellen Selbstbehauptung der AfrikanerInnen und aller Menschen solcher Herkunft. Im Zusammenspiel mit dem Surrealismus, der seit den 20ern mit psychoanalytisch begründeten Theorien gegen tradierte Normen antrat, führt uns Kentridge tief verwurzelte postkoloniale ökonomische, geistige, kulturelle und gesellschaftliche Strukturen eindringlich vor Augen. Eine tiefe Spiritualität durchweht diese aus Theater, Oper, Tanz, Performance, bildender Kunst und Musik komponierte, hochkomplexe und ungemein poetische Arbeit.
William Kentridge: „The Great Yes, The Great No“ © Monika Rittershaus
Damals flüchteten sie aus, heute nach Europa. Die Ursachen sind teils vergleichbare, teils kommen neue, andere hinzu. Aber Kentridge geht weit über eine Spiegelung hinaus. Er verweist mit seinen historischen „Unschärfen“ auf Migrationsbewegungen, die zu allen Zeiten die Menschheit beschäftigten und beschäftigen. Mit seinen deutlichen Hinweisen auf kulturelle Identitäten einerseits und den Herrschafts-Anspruch europäisch geprägter „Leit-Kulturen“ andererseits, auf die Migration auslösenden gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, die eine gemeinsame historische, ökonomische, politische und nun auch (gemeinsam mit anderen Key-Playern) ökologische Wurzel haben: Europa, auf die mit Auswanderung immer verbundenen (oft romantisierenden) Vorstellungen vom Ziel und vom Leben dort und auf das Ignorieren der Verantwortung für Vieles, was da weit weg von uns geschieht, verleiht er selbst seiner Arbeit „The Great Yes, The Great No“ das Prädikat „Für Europäer besonders wertvoll“.
William Kentridge selbst formuliert mit „Die Welt hat ein Leck – die Toten melden sich zum Einsatz – die Frauen heben die Trümmer auf.“ auf so poetische Weise das Sujet dieser Arbeit.
Eine andere Art von Poesie befeuert die „Ursonate“, ein nach dem ersten Weltkrieg entstandenes dadaistisches Lautgedicht von Kurt Schwitters. Kentridge liest es nicht nur, er performt es mit variiertem Gestus, intoniert als nüchterne Aussage, als Frage oder Behauptung. Seine nuancierte Gestik zeigt grundlegende körpersprachliche Muster und Strukturen auf. „Fumms bö wö tää zää Uu, pögiff, kwii Ee.“ Mal sachlich wie ein Wissenschaftler, dann wie ein emotional hoch engagierter Politiker, oder als Debatte, die sogar einen im Publikum platzierten (weißen) Co-Performer zu einem empörten Dada-Zwischenruf veranlasst. Nonsens wird heftig diskutiert.
William Kentridge: „Ursonate“ © Paula Court
Äußerst amüsant sein Vortrag. Aber er konterkariert diesen durch auf die rückwärtige Leinwand projizierte Animationen. Buchseiten huschen im Schnellstdurchlauf vorbei, Textsplitter, farbige geometrische Flächen und darübergekritzelte bewegte Kohle-Zeichnungen von Kentridge selbst. Eine (Friedens-) Taube platzt, Explosionen, ein Soldat mit einem erdkugelrunden Körper, bearbeitete Videos von Schlachtfeldern des ersten Weltkrieges und der Verwüstung der Welt. Und später von schwarzen Tänzern.
Massenhaft Referenzen. Auf die Kunst jener Zeit mit ihren mannigfaltigen Suchen, (Zusammen-) Brüchen und Aufbrüchen in Neues, auf Manipulation, Verführung und ideologische Inkompetenz, auf das destruktive Potential im Menschen, auf falsche Werte und irrigen Glauben. Auf das Vergessen dessen, was uns zum Menschen macht, machen könnte. Seine später beginnende Repetition des immer gleichen Textes, variiert in Gestus und Duktus, verweist auf die Wiederholungen in der Menschheitsgeschichte, darauf, dass der Mensch nicht lernt aus seiner Geschichte.
Fünf ausgewählte PerformerInnen und MusikerInnen aus „The Great Yes, The Great No“ kommen später hinzu. Sie skandieren rhythmisiert gemeinsam, eine schwarze Frau singt wunderschön. Kentridge studiert eine Partitur mit ihnen ein. Er dekonstruiert am Ende den Text bis in seine kleinsten Bestandteile. Nur noch Buchstaben liest er vor. Aus denen nun Neues zusammengesetzt werden kann.
William Kentridge: „Ursonate“ © Paula Court
Entstanden ist der Dadaismus als Reaktion auf die Erschütterung aller Werte durch den ersten Weltkrieg. Kentrigde dreht den Spieß um. Er fordert mit seiner „Ursonate“ die schonungslose Hinterfragung all unserer Werte- und Glaubenssysteme. Sofort. Und immer wieder. BEVOR die Gespenster, die er zeichnete, aus ihrer Zweidimensionalität wieder und wieder auferstehen. Kentridge setzt Schwitters „Ursonate“ in seine Zeit und holt sie gleichzeitig aus ihr heraus. Er schafft ein Antikriegs-Epos, tränkt es in antikolonialer Attitüde und zeitlicher und lokaler Universalität.
Beide Arbeiten, „The Great Yes, The Great No“ und „Ursonate“, eint ihr tief humanistischer Duktus, ihre Anklage des Eurozentrismus und ihre Aufforderung zur Besinnung auf Empathie und Menschlichkeit.
William Kentridge mit „The Great Yes, The Great No“ am 16.07.2024 im Burgtheater Wien und mit „Ursonate“ am 17.07.2024 im Odeon Wien im Rahmen von ImPulsTanz.
Rando Hannemann