WIEN/ ImPulsTanz/ Burgtheater: „Vollmond“ von Pina Bausch
Von Rando Hannemann
Zur Eröffnung des diesjährigen ImPulsTanz-Festivals programmierte Intendant Karl Regensburger das im Mai 2006 in Wuppertal uraufgeführte Stück „Vollmond“ der 2009 verstorbenen deutschen Tanzlegende Pina Bausch als Österreichische Erstaufführung. In einem Reigen von ineinander fließenden Episoden und Episödchen erzählen die zwölf TänzerInnen von der Sehnsucht nach Liebe. In all ihren Spielarten. Und sie begeisterten das Publikum.
2019 war das Tanztheater Wuppertal erstmals bei ImPulsTanz zu Gast. „Mazurca Fogo“, entstanden 1998 auf Einladung der Expo 98 in Lissabon und dort auch uraufgeführt, kreiste humorig-ironisch um das Thema Liebe. Symboliken und Metaphoriken von dort finden sich auch in „Vollmond“ wieder. Freilich in andere Bilder gepackt. Die Wurzeln jedoch sind die gleichen. Diese hat die so fein beobachtende Choreografin hier in einem ihrer sogenannten Nachtstücke mit deutlich weniger Sprache und Leichtigkeit in manchmal schmerzende Formen gegossen, die virtuos das immer Gleiche umspielen: Die seelische Not-Wendigkeit, zu lieben und geliebt zu werden.
Tanztheater Wuppertal: Pina Bausch_Vollmond © yako.one
Auf der auch für „Vollmond“ von Peter Papst entworfenen Bühne, schwarz sind die drei Wände und dunkelgrau der Boden, fangen zwei Männer Luft in Flaschen. Einer tanzt sein Geworfensein in die Welt in einem beeindruckenden Solo. Und er beschreibt damit die psychologisch-emotionalen Urgründe für alles, was dann folgt. So wie der riesige Felsblock hinten rechts , schön gemasert und rund geschliffen, irgendwo, scheinbar zufällig, liegen geblieben wie ein eiszeitlicher Findling und damit kongenial hinweisend auf das archaische Urthema allen menschlichen Seins.
Die daraus resultierende Einsamkeit und die mannigfaltigen Versuche, sie nicht mehr fühlen zu müssen, prägen das Bühnengeschehen. Eine Frau bedrängt einen zurückweichenden Mann mit stürmischen Küssen. Eine andere sagt, während im Hintergrund Tom Waits singt (musikalische Mitarbeit: Matthias Burkert, Andreas Eisenschneider): „Du kannst mich küssen. Auf die Stirn, die Wange, den Mund, die Schulter. Kommt darauf an, was wir wollen.“ Körperliche Liebe als seelisches Narkotikum. Eine Frau sitzt auf einem Mann wie auf einem Stuhl: „Das ist geil!“ Und sie trinkt ihren Sekt.
Tanztheater Wuppertal: Pina Bausch_Vollmond © yako.one
Irgendwann beginnt es zu regnen. Das Prasseln des Wassers begleitet die Streicher-Musik. Eine Frau tanzt, ihr Blicke oft gen Himmel gerichtet, ihre Sehnsucht in den nassen Bühnenboden. Ein Paar sitzt nebeneinander auf Stühlen. Sie legt den Kopf auf seine Schulter, drapiert auf seiner nackten Brust ihr langes Haar. Und streichelt es liebevoll. Symbiotische Beziehungen. Und: Narzissmus als psychologischer Mechanismus, der die im Außen nicht zu erlangende Liebe kompensiert. Das Öffnen eines BH’s in der Umarmung wird zur Übung unter Zeitdruck. Erotik als sportliche Herausforderung. Der Schnellere der beiden Männer darf mit heim. Eine Frau bietet Süßigkeiten an. Als Ersatz für die vermisste Liebe. Männer schwingen sich mit Stäben in den Händen wie mit einem dritten Bein über die Bühne. Gehhilfen in jedem nur denkbaren Sinn, Krücken für so Vieles. Ein Mann schlägt eine Frau und tut sich dabei weh an seiner Hand. Sie entschuldigt sich dafür. Die für das Patriarchat lebensnotwendige, den Frauen eingeredete weibliche Erbsünde sitzt noch immer tief vergraben in den Herzen vieler Frauen. Eine Frau schlafwandelt, beschützt von einem Mann, der sie am Ende allein lässt. Die Frauen irren wie ferngesteuert, wie Gespenster in einer Szene.
Sie berichten von körperlichen und seelischen Bedürfnissen, von der Flucht vor sich selbst, zum Anderen hin, von Narzissmus und Substitution. In solistischen, Zweier- und Gruppen-Episoden erzählen die PerformerInnen mit Tanz, Schauspiel, Sprache und Lauten von Abhängigkeit, Macht, Aggression, Gewalt, Erniedrigung, Unterwerfung, Dominanz, Konkurrenz, Selbstbetrug, Schuldgefühlen, Melancholie, Laszivität, Verführung und Verlangen, Hysterie, Ignoranz, Einsamkeit, Traurigkeit, Unverständnis, Unfähigkeit, den anderen zu fassen und zu halten, Rat- und Hilflosigkeit, Ohnmacht, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Wut, Verzweiflung, Resignation, Sehnsucht. Von Aspekten der Liebe. Aber auch von Kraft, Stärke, Selbstbesinnung und -ermächtigung, getanzt von einer der Älteren des Ensembles zu Bossa Nova in einem hinreißenden Solo im Regen.
Tanztheater Wuppertal: Pina Bausch_Vollmond © yako.one
Die Kostüme von Marion Cito, elegante lange, einfarbige Kleider für die Frauen und lässige Hose-Hemd-Kombinationen für die Männer, versetzen das Geschehen in „die feinere Gesellschaft“. Deren ihr zugeschriebene Dekadenz erleichtert die Überzeichnung ins zuweilen schon Monströse ihrer Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit und der Mittel und Wege, sie zu bekommen. Jedoch: pars pro toto. Kaum jemand darf sich hier zurücklehnen.
Das Wasser spielt eine Hauptrolle in „Vollmond“. Im ströhmenden Regen tanzen sie ihre Soli. Der hintere Teil des Bühnenbodens wird zu Kanal, durch den sie bäuchlings rutschen, oder Teich, mit dessen Wassern sie orgiastisch werfen. Der 150-minütige, durch eine Pause unterbrochene Reigen von Ereignissen endet in einem furiosen Finale. Der Mond scheint hell. Alle zwölf tanzen Sekunden-Soli im Wasser, wild, ekstatisch, zeigen unzerstörbaren Lebenswillen, halten fest am Glauben an die Liebe und ihre Kraft, die alles Leben nährt. Schließlich sitzen sie da, durchnässt und erschöpft, und rammen mit den Fäusten einen unsichtbaren Pflock in den Boden. Dem Ur-Element Wasser entspringt Leben. Und es kann töten. So wie die Einsamkeit.
Tanztheater Wuppertal: Pina Bausch_Vollmond © yako.one
Die Verwundbarkeit und die vielen schon erlittenen Verletzungen eines jeden Einzelnen stellt Pina Bausch mit zärtlichem Blick in das silbrige Mondlicht der Bühne. Die immense Komplexität des Themas, seine Umsetzung in manchmal skurrile, groteske, teils gespenstische, aber immer liebe- und verständnidvolle, zutiefst humanistische Bilder trotzt mit viel Augenzwinkern den Absurditäten der Liebe. „Vollmond“ trägt das Leben auf die Bühne, hängt ihm ein poetisches Mäntelchen um und macht aus der alltäglichen, nie endenden Sehnsucht nach Liebe ein bewegendes, zeitenloses Meisterwerk, das vom Publikum im ausverkauften Burgtheater mit stehenden Ovationen gefeiert wurde.
Die Geschlossenheit der Kompanie, trotz der großen Altersunterschiede und der den Jüngeren fehlenden Erfahrung in der direkten Zusammenarbeit mit Pina Bausch, sowie ihre tänzerische und darstellerische Meisterschaft beeindrucken. Es bleibt zu hoffen, das der in der kommenden Saison die bisherige Intendantin Bettina Wagner-Bergelt ablösende Choreograf Boris Charmatz neben der Kompanie auch das Werk der Pina Bausch pflegt.
Rando Hannemann