WIEN / ImPulsTanz:
Akram Khan: „Thikra: Night of Remembering“
im Burgtheater Wien
Der international gefeierte britische Choreograf und Tänzer Akram Khan, seine bengalischen Wurzeln scheinen in seinen Arbeiten immer irgendwie auf, ist ein Meister der Reaktivierung von uralten Mythen und der Erforschung ihrer Aktualität. Als Auftragswerk des Wadi AlFann, Valley of the Arts, Al-ʿUla, entstanden und im Jänner 2025 im Rahmen des AlUla Arts Festivals als Open-Air-Version uraufgeführt, entführt die erst vor wenigen Wochen das erste Mal und hier als Österreichisch-Premiere gezeigte Bühnenversion von „Thikra: Night of Remembering“ in die einsame Landschaft im Nordwesten Saudi-Arabiens.
Khans Werke leben von Kollaborationen mit vielen namhaften Künstlern verschiedener Bereiche. Die bereits mit vielen Preisen geehrte bildende Künstlerin Manal AlDowayan, Khan entwickelte gemeinsam mit ihr auch das narrative Konzept, versetzt die Bühne in die menschenleere Wüste des Wadi AlFann. Das hinten errichtete, über eine Treppe erreichbare Felsplateau, unter diesem ein Höhleneingang, dominiert die Bühne. Die in London arbeitende, unter anderem auch für die Pina Bausch Foundation tätige Lichtdesignerin Zeynep Kepekli taucht die Bühnenlandschaft mit ihren bis auf eine Ausnahme unsichtbaren Lichtquellen in naturnahes, immersives Licht. Sie schafft wirkungsvolle mystische, geheimnisvolle Stimmungen.
1 Akram Khan Company: „Thikra: Night of Remembering“ (c) Camilla Greenwell
Musik und Sound spielen in Akram Khans Stücken eine gewichtige Rolle bei der Schaffung von Atmosphären. Aditya Prakash, Sänger und Komponist, erarbeitete unter Beteiligung des Sounddesigners Gareth Fry und von mehr als 35 internationalen MusikerInnen komplexe Klanglandschaften, die allein schon, wie so häufig in Khans Stücken, den Besuch der Vorstellung lohnen.
AlDowayan schuf auch die Kostüme. Sie hüllte das aus 13 Frauen bestehende Ensemble in bodenlange, weite Kleider. Graue für die Stammesmitglieder, schwarz für die Beschwörerin und das rituelle Medium, weiß für den Ahnengeist und Lila für die Matriarchin.
Die leitet ihren Stamm durch das einmal jährlich durchgeführte nächtliche Ritual der Erweckung der Ahnen. Vom Fels des Wissens herab beginnt und beendet sie dieses. Hier offenbart sich eine Zyklik, die ein die Menschheitsgeschichte begleitendes Phänomen darstellt: Die Wiederkehr von immer wieder neu gewandeten Fehlern, Versäumnissen oder Unterlassungen gleichen Charakters.
Das Ritual weckt Erinnerungen vieler Generationen an eben diese. Es ist Teil einer heute von Mahnern unterschiedlichster Couleur geforderten, von Fortschrittsgläubigkeit und Ignoranz jedoch verdrängten Erinnerungskultur, die den Kreislauf der menschengemachten Katastrophen zu unterbrechen helfen kann.
Der Symbolgehalt des Stückes ist immens. Auch wenn die Erzählung der Geschichte nur die eines uns fremden, uralten Rituals zu sein scheint, ermöglichen einzelne Bilder, Szenen wie auch das Stück als Ganzes eine Kontextualisierung im Heute. Ein Stein mit Inschriften wird zum Symbol für altes Wissen. Dass dieser schwere Stein erst umgedreht werden muss, der Ahnengeist allein schafft es nicht, steht für die kontinuierliche Entwertung von Erfahrung und Alter. Von einer Ehrung der Ahnen entfernen wir uns immer weiter mit Jugendlichkeitswahn und Humankapital.
2 Akram Khan Company: „Thikra: Night of Remembering“ (c) Camilla Greenwell
Die Weitergabe von Wissen ermöglicht Fortschritt. Dass dieser inzwischen vornehmlich als technologischer begriffen wird und somit die Wissensvermittlung das die Effizienz hemmende Ideelle ausschließt, macht die Wiederholung auch der schlimmsten Fehler der Menschheit möglich und wahrscheinlich. Der Mensch als solcher also hat sich selbst vom Wachstum ausgeschlossen. Das Niveau seiner Technologien hat das seiner moralisch-ethisch-spirituellen Reife bereits vor 2 Jahrhunderten überholt. Mit stetig steigendem Abstand und der sich damit verschärfenden Gefahr eines der Menschheit und der Schöpfung gegenüber verantwortungslosen Umganges mit den Ergebnissen des Fortschritts.
Der ausschließlich weiblich besetzte Cast repräsentiert zudem das weibliche, bewahrende Prinzip als Gegenstück zum männlichen, das erschafft. Nicht nur physisch-technologische Wunderwerke gehören zu den Errungenschaften einer vom Patriarchat dominierten und gebeutelten Welt, auch solche wie die Separierung der Gesellschaft, Diskriminierung, Unterdrückung und Krieg. Hier setzt Akram Khan ein deutliches Zeichen gegen die fortgesetzte Herrschaft des Mannes. Die Zartheit und Zärtlichkeit der Frauen im Umgang miteinander, ihre Solidarität untereinander berühren. Der hier zum Leben erweckte Antagonismus schwarz-weiß als Bild für die polare Weltsicht der westlichen „Hoch-“ Zivilisation wird von den Frauen entkräftet. Sie schaffen es mit vereinten Anstrengungen, die schwarz gekleidete Inkarnation der Angst vor dem Tod zu besiegen und damit die Kontinuität des Erbes und dessen Wertschätzung zu sichern.
Das aus fantastischen Tänzerinnen vieler verschiedener nationaler und kultureller Herkünfte bestehende Ensemble zeigt in solistischen und Gruppentänzen mit eingeflochtenen theatralen Szenen Tanz auf höchstem Niveau. Der klassische indische Bharatanatyam mit seiner komplizierten Fußarbeit, expressiven Handgesten und charakteristischen Posen wird mit zeitgenössischem Material zu einer die Jahrtausende umspannenden, die Kulturen miteinander verschränkenden, in ihrer Dynamik variablen und durch ihre Intensität mitreißenden Choreografie verwoben. Diese mischt in kraftvollen, vom Sound getriebenen Tänzen Geschichte und Gegenwart. Wenn sie ihre langen Haare schleudern, erinnert man sich an die mit so viel Gewalt niedergeschlagene Freiheitsbewegung der Frauen im Iran.
3 Akram Khan Company: „Thikra: Night of Remembering“ (c) Camilla Greenwell
Der Künstler und Mensch Akram Khan wird getrieben von seiner Sorge um die Zukunft der Menschheit und des Planeten. Was der Menschheit verloren geht und gehen wird durch Fragmentierung und Geschichtsvergessenheit, kann man wohl nur erahnen. Chancen für und sogar die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit gibt es allenthalben. Khan zeigt, auch das ist eine der Metaphern nicht nur dieses Stückes, welche Chancen sich ergeben durch Kollaboration. Damit kann Großes auf höchstem Niveau und von universeller Bedeutung entstehen. So wie „Thikra: Night of Remembering“. Ein bewegendes Werk, geschaffen von großen Künstler-Persönlichkeiten, komponiert aus brillantem Tanz, gewaltigen Bildern und wuchtigem, kraftvollem Sound. Gegen das Vergessen.
Rando Hannemann