Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

WIEN/ DAS OFF THEATER: TANZ IM OFF II (4/4): Gervasi, Deac & Zauner und De Santis

15.12.2024 | Ballett/Performance

WIEN/ DAS OFF THEATER: TANZ IM OFF II (4/4): Gervasi, Deac & Zauner und De Santis

Tanz Company Gervasi: “Sound for Eva“

Die Wirkmacht der zwei alttestamentarischen Begriffe Sündenfall und Erbsünde ist nicht zu überschätzen. Sie haben die westliche Welt nachhaltig geprägt. Das auf jener Erkenntnis von Gut und Schlecht/Böse gründende Aristoteles’sche polare Denken wird zur Grundlage philosophischer und gesellschaftlicher Systeme und für die psychische Grundbefindlichkeit von Individuen. Auf letztere schaut Elio Gervasi, aus Italien stammendes Urgestein und Altmeister des österreichischen zeitgenössischen Tanzes, mit seiner hier uraufgeführten Arbeit „Sound for Eva“.

Die zwei Tänzerinnen Paula Dominici (Österreicherin aus Wien) und Darja Turchenko aus Lettland choreografiert er als ein wandelbares Paar, das sich auf den Weg nach innen macht. Sie beginnen wahrzunehmen, zufällige emotionale Impulse zu tanzen. Aufleuchtendes Licht und Sound, der wie hallende Glocken Klang und Stimm-Fetzen in den Raum schlägt. Darja ist unscharf, unsicher, Opfer ihrer Gefühle, verknotet in einem physisch-psychischen Wirrwarr, Paula klar strukturiert. Weiblich vs. männlich. Beide agieren atomisiert, vollkommen auf sich gestellt.

comp1
Tanz Company Gervasi: „Sound for Eva“ (c) Tanz Company Gervasi 

Gervasi entwickelt dieses Ausgangsmaterial zu einer inhaltlich und tänzerisch dynamischen Auseinandersetzung mit sich selbst und der Anderen. Die beiden Frauen gehen durch Phasen von animalisch-archetypischer Wirrnis, tauschen ihre Habitus. Eindringlicher Sound begleitet das Taumeln, das verwirrende Spüren, die Kraft freigelassener Gefühle. Während die andere die Balance sucht. Sie besinnen sich auf Halt gebende Normen, beginnen emotionale Interaktion, erlangen den selben Status, gehen daraus eigene Wege.

Paula, souverän und weich in ihren Bewegungen, vermisst ihren Körper, bewegt ihn wie ein Objekt. Selbsterkenntnis und die Frage „Wer bin ich wirklich?“ treiben sie. Verhaltens- also emotionale Muster werden deutlich. Intensive Ausbrüche, die Suche nach einer irgendwie begründeten Balance, die Verstrickung in ein beide verbindendes weitmaschiges Netz, aus dem sie sich lösen, und schließlich Adams/Paulas erster Biss in die verbotene Frucht.

Aus der klaren Ästhetik des Bei-sich-Seins entspringt eine wechselseitige energetische Beeinflussung. Hoch spannend erleben wir Imitation, Vorbild und Abbild, nie gleich, nur ähnlich, verzögert, gedämpft, erleben wir das Korsett der Schuldgefühle, geboren aus Kindheits-Traumata. Und wir erleben den Willen zur Freiheit.

Das Stück untersucht auch die Frage: „Wie frei sind wir wirklich?“ Was determiniert diesen Begriff, was setzt ihr Grenzen und wie können wir diese überwinden? Sie streben in ihrem Kampf um seelische Selbstbehauptung der Freiheit zu, erarbeiten sich das dafür notwendige Bewusstsein und öffnen sich dann. Sie leben die Weisheit der Gefühle. Dieses Aufbrechen des Diktates des Ratio, die Hingabe an das Emotio im Wissen um dessen fundamentale Bedeutung nicht nur für die seelische Gesundheit, sondern für den individuellen Wachstums- und Reifungsprozess, macht das Stück, auch wenn die Form bescheiden daherkommt, so klug und weise.

Ausdrucksstärke, Abstraktionsvermögen und Wandelbarkeit im großen Spektrum der Gefühle, tief, authentisch, elementar, und doch abstrahiert, tänzerisch auf einzigartigem Niveau und mit ihrer Präsenz den Bühnenraum füllend: Es ist ein Genuss, die zwei Tänzerinnen zu sehen.

comp2
Tanz Company Gervasi: „Sound for Eva“ (c) Tanz Company Gervasi 

Die Eva zugeschriebene Verantwortung für den Sündenfall ist seit Jahrtausenden Teil männlicher Rechtfertigungs-Strategien für die Unterdrückung der Frauen. Insofern ist der finale gemeinsame Entschluss der beiden Tänzerinnen, von der verbotenen Frucht zu kosten, die Selbstermächtigung zur Erkenntnis, nicht nur der ihrer Diskriminierung, ebenso der in ihnen wirkenden, blockierenden psychischen Instanzen, der Ursachen ihrer Schuldgefühle, der per christlicher Verfügung nur durch männliche Autorität abzutragenden ererbten Schuld und ihrer ureigenen Kraft und Macht, sich selbst und die Welt um sie herum zu ändern. „Sound for Eva“, eine Auflehnung gegen das Patriarchat, markiert, großartig getanzt, den Beginn eines Emanzipationsprozesses.

Sie überwinden die Polarität durch die Vereinigung der Gegensätze in sich und zwischen ihnen, durch die Auflösung der Geschlechtergrenzen. Wie eine Schlange windet die eine Frau ihren Arm um die andere, bevor sie gemeinschaftlich Gottes Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, und zugleich sein Gesetzt der Polarität der Welt missachten und mit ihrem ersten Schritt heraus aus dem Paradies der Einheit aller Dinge eben diese in die zerrissene Welt tragen.

 

Manuela Deac & Hannah Zauner: „PHANTOM“

Zwei Tänzerinnen, beide Mitglieder des Kollektiv Klaus, einer Vereinigung von sieben Frauen unterschiedlicher kultureller Hintergründe, Generationen und künstlerischer Disziplinen, die im öffentlichen Raum ortsspezifische, aus weiblicher Perspektive entstandene Interventionen mit gesellschaftspolitischer Relevanz performen. Manuela Deac, gebürtige Rumänin, Tänzerin, Performerin und Schauspielerin, und Hannah Zauner, Tänzerin, Pilates- und Tanz-Trainerin, Regieassistentin und studierte Kultur- und Sozialanthropologin, tauchen mit dieser Arbeit ein ins Innere des Einzelnen.

comp3
Deac & Zauner: „PHANTOM“ (c) Walter Pobaschnig 

Elektronischer Sound des aus Luxembourg stammenden Musikers, Komponisten und Sound-Designers Xavier Weydert wabert dunkel über der Szene, gibt mit eingespielten, verfremdeten Songs und rhythmisch treibenden Passagen der tänzerischen Performance der zwei Frauen eine akustische Ebene hinzu, die das Stück aus der Klarheit der physischen Bilder in das über allem schwebende Eigentliche hebt.

Weit entfernt von diesem lebt vor allem Manuela Deac ihr Gefangensein in Oberflächen, Hüllen und Maskierungen. Hannah Zauner scheint näher bei sich zu sein. Sie beobachtet, spiegelt und hinterfragt mit ihrer Performance die Fassaden der Anderen. Ihr Tanz erzählt von den Versuchen, sich selbst zu bedecken, von aufgesetzten Identitäten und unterdrückten inneren Dämonen. Die Mechanismen sind allüberall zu beobachten. Ob reflexiv intendierte, konstruierte Selbstbilder bestätigende oder die Signale aus dem Inneren betäubende Verhaltensmuster, der grassierende Selbstbetrug wird zur gesellschaftlich anerkannten Norm.

comp4
Deac & Zauner: „PHANTOM“ (c) Walter Pobaschnig 

Die beiden ausdrucksstarken und so selbstverständlich präsenten Tänzerinnen spielen virtuos auf der Klaviatur der Selbst- und Fremdtäuschung. Sie schaffen es, jenes noch unbekannte Ganze, dem sie zustreben, als spürbaren Geist zu inszenieren. Und dann stehen sie vor uns, die Arme geöffnet, wie bereit zum Tanz mit einem noch unbekannten Partner. Der sind sie selbst, die dunklen Schatten, die abgelehnten und verdrängten Aspekte in ihnen. Diese einzuladen, Willkommen zu heißen und fortan zu leben ist ihr Ziel.

„If it is a game, who is the puppeteer?“ Mit dieser in ihrem Text zum Stück final gestellten Frage weisen die zwei Tänzerinnen auf das Potential, das „PHANTOM“ noch innewohnt. Das zu heben wäre wünschenswert. Denn viel zu kurz und plötzlich dann beendet erscheint diese wunderbare Untersuchung eines die Gesellschaft und ihre Mitglieder so prägenden und hintertreibenden Phänomens.

 

Sara De Santis: “TAKE ONEself easy”

„Eine tänzerische Erkundung des Balanceakts des Lebens“ überschreibt die Lehrerin, Tänzerin, Performerin, Choreografin und Anthropologin Sara De Santis, in Wien ansässige gebürtige Italienerin, ihr bereits im Rahmen des „Performing Puzzle“ im Mai 2023 an selber Stelle aufgeführtes Stück. Mit viel Humor und Publikumsbeteiligung navigiert sie durch die Komplexität des modernen „Womenhood“. Tanz.at berichtete bereits.

comp5
Sara De Santis (c) Bianca Anne Braunesberger

Resümee:

Mit Wiederaufnahmen und Uraufführungen, ermöglicht mit kleinem Budget und als Herzensprojekt des Direktors des OFF THEATER Ernst Kurt Weigel, zeigte das Festival „TANZ IM OFF II“ tänzerisch und inhaltlich, wohin sich der zeitgenössische Tanz entwickelt. Die Arbeiten widmen sich gesellschaftspolitisch und individuell brisanten Themen. Und das, ungeachtet der begrenzten ZuschauerInnen-Zahl und der mittleren Bühnengrößen (beide Säle des Theaters wurden bespielt), auf künstlerisch hohem und höchstem Niveau. Dringend notwendiger Einsatz für den Tanz traf hier auf engagierte KünstlerInnen und deren Stücke. Möge dieses Vorbild Schule machen.

Tanz Company Gervasi mit “Sound for Eva“, Manuela Deac & Hannah Zauner mit „PHANTOM“ und Sara De Santis mit “TAKE ONEself easy” am 13. und 14.12.2024 im Rahmen von „TANZ IM OFF II“ im OFF THEATER Wien.

Rando Hannemann

 

 

Diese Seite drucken